Von der Magie der schnellen Zahl

Daten, an die wir leicht herankommen, nehmen wir automatisch für voll.

Der Nobelpreisträger Daniel Kahnenman schreibt in seinem Buch ›Schnelles Denken, langsames Denken‹ (Seite 87): »Woher wissen wir, dass eine Aussage wahr ist? Wenn sie logisch oder assoziativ eng mit anderen Überzeugungen oder Präferenzen von uns verbunden ist oder wenn sie von einer Quelle stammt, der wir vertrauen und die wir mögen, erleben wir eine Art kognitive Leichtigkeit. […] Menschen können einige der oberflächlichen Faktoren, die Wahrheitsillusionen erzeugen, überwinden, wenn sie stark dazu motiviert sind. Doch bei vielen Gelegenheiten wird das faule System 2 den Vorschlägen von System 1 folgen und weiterziehen.« Das gilt sogar und, beinahe wäre zu betonen: insbesondere in Krisenzeiten.

Hollywood statt Hörsaal

Dafür liefern die verschiedenen Corona-Barometer ein hervorragendes Beispiel. Die Johns-Hopkins-Universität wartete als erster Anbieter mit einem gut gestalteten Dashboard auf, das nicht nur sämtliche Kennziffern für das eigene Land liefert, sondern auch Verlaufskurven zeichnet und Vergleiche zwischen den Ländern in Form von Rankings zieht. Die Optik eines U-Boot-Schaltpults oder eines Steuergeräts für Atomraketen versieht die eigentlich neutralen Zahlen mit einer wohligen Prise Dramatik — und macht jegliche Frage nach der Qualität der Daten vergessen.

Erst gestern veränderte das Robert-Koch-Institut die Vorgaben, nach denen eine Person in Deutschland für einen Corona-Test in Betracht kommt. Die neuen Fallzahlen werden sich damit also kaum mehr mit den alten ins Verhältnis setzen lassen. Genau das werden trotzdem alle tun, vom Journalisten über den Informatiker bis hin zum Politiker.

Attraktivität schlägt Validität

Bevor wir aber darüber den Stab zerbrechen: Welche Alternative gäbe es denn? Das berechtigte, aber sehr schwerfällige hiesige System der amtlichen Meldezahlen kann den Informationshunger der Medien und der Massen nicht annähernd schnell genug stillen. Die private Universität aus Baltimore dagegen schon. Ihre Werte schaffen es deshalb bis in die renommiertesten Nachrichtenformate und stechen damit sogar die amtlichen Zahlen aus, auch wenn weder die Quellen und deren Verlässlichkeit noch die Vorgehensweise bei der Datenaufbereitung bekannt sind.

Wir lernen daraus: Auch Ämter und Behörden wären gut beraten, ein modernes — und unabhängiges — Melde- und Monitoringsystem aufzubauen. Digitalisierung hat hier noch große Potenziale. Abseits des Back-End kommt es aber vor allem auf gute Gestaltung und einen insgesamt leichten Zugang zu den Daten an. Dass das Dashboard aus Baltimore sich in kurzen Intervallen aktualisiert, wirkt übrigens nicht nur wie eine Belohnung, sondern schafft zusätzliches Vertrauen. Das Robert-Koch-Institut vermeldet grundsätzlich niedrigere Zahlen. Die können ja wohl nicht stimmen …

Update, 03.04.2020: Der Halo-Effekt, den die Johns-Hopkins-Universität durch ihre schnelle Darreichung internationaler Zahlen für sich erringen konnte, tritt durch einen Bericht der ARD nun noch viel deutlicher zutage: Demnach surft sie ganz einfach auf der Welle offener Datenangebote mit, ganz im Geiste eines Free-Riders, und weiß sie lediglich besser zu reiten als andere.