Nur das Fahrrad hat noch einen Ständer

Mit Selbstaufgabe statt Leidenschaft erregt die deutsche Radverkehrsförderung höchstens noch blanken Ekel.

Mit Lust ist das ja so eine Sache: Der eine ordnet ihr gnadenlos alles unter, während die andere den Genuss auch in vielen kleinen Dingen finden kann. Nicht anders verhält es sich beim Geschlechtsverkehr. Die Welten des Erlebens erweisen sich als so vielfältig wie die Teilnehmenden selbst. Als absoluter Abtörner muss es aber gelten, wenn einer der Beteiligten gar keine Lust verspürt. Die Radverkehrsförderung in Deutschland, so scheint es, bekommt auf normalem Wege jedenfalls keinen mehr hoch. In ihrer rückgratlosen Scheu, eigene Interessen selbstbewusst zu vertreten und dabei durchaus auch handfeste Konflikte mit anderen Verkehrsarten, insbesondere mit dem Kraftverkehr, emanzipiert auszufechten, wandelt sie sich allmählich zur unterwürfigen Hure. Benutze mich, sonst erhalte ich gar keine Aufmerksamkeit mehr! Im Gegensatz zum BDSM müssen die verschiedenen Beteiligten am Straßenverkehr zwar kein Machtgefälle neu erzeugen, es besteht bereits. Ihre freiwillige Unterwerfung vollzieht die Radverkehrsförderung aber in regelmäßigen Abständen durch öffentliche Akte, ungefragt und beifallheischend.

Nie wieder zum Höhepunkt?

Die baden-württembergische Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen rollte bereits im Jahr 2014 ihre Kamagne ›Tu’s aus Liebe‹ aus: »Einfach mal in die Anderen hineinversetzen, Blickkontakt aufnehmen, anlächeln. Damit lassen sich nicht nur Unfälle vermeiden, sondern es entsteht auch ein freundlicheres und sicheres Miteinander im Straßenverkehr. […] Doch es sind nicht immer nur die Autos: Gut ein Drittel der Unfälle wird folglich von den Radfahrern verursacht. Da setzt die AGFK-Kampagne an und wirbt für mehr Miteinander auf der Straße …« Weshalb, bitteschön, adressiert eine Verkehrssicherheits-Kampagne nicht die Mehrheit von Unfallverursachern? Weil die — mit ihrer Motor-Potenz — dominiert und selbst Befehle erteilt, statt sie zu empfangen.

Mit einer erschütternden Bankrotterklärung von Vernunft, Selbstbewusstsein und Leidenschaft tut es die nordrhein-westfälische Arbeitsgemeinschaft ihrer Schwester aus dem Südwesten nun gleich und launcht die Kampagne ›Liebe braucht Abstand‹: »›Eine gute Beziehung ist eine Frage des richtigen Abstands.‹ Dieser Satz aus der Paartherapie war Inspiration für den Claim der Kampagne. Er bringt auf den Punkt, was das tägliche Erleben auf den Straßen so oft vermissen lässt: Rücksicht durch ausreichend Abstand.« Nicht nur, dass die Kampagne also die — irrtümliche — Grundannahme trifft, die Verkehrsteilnehmenden verbände eine zwischenmenschliche Beziehung. Im Film zur Kampagne werden außerdem Ordnungswidrigkeiten — Falschparken — und Straftaten — Drängeln — als ›Respektlosigkeit‹ verharmlost. Auch die Verstopfung öffentlicher Flächen wird wieder einseitig dem Radverkehr zugeschrieben, nicht dem Kraftverkehr. Ein skandalöses Beispiel für die fortwährende Duldung und Beschönigung struktureller Missstände inklusive Todesopfer im Straßenverkehr — und für die vollständige Selbstaufgabe der Radverkehrsförderung. BDSM übrigens beschert nur durch gemeinsam vereinbarte Regeln und insbesondere Grenzen einen Lustgewinn. Ansonsten muss es als gewaltsame Misshandlung gelten.