Der Lack ist ab!

Offiziell will noch niemand die Fahrradkrise eingestehen. Doch gerade im Lichte der Klimadebatte lässt sich nicht vermeiden, dass irgendwer tatsächlich mal nachrechnet.

Rostigen Fahrrädern mag ein gewisser morbider Charme anhaften, mindestens für Fotomotive. Rostige Leistungsdaten dagegen gleichen in der modernen Welt wohl eher einem imaginären Todesurteil. Elektromobilität, Eisenbahn, digitale Infrastruktur, Klimaschutz, Großprojekte: Wozu ist der Innovationsstandort Deutschland eigentlich überhaupt noch in der Lage? Das Fahrrad läge in Deutschland im Trend, behauptet jedenfalls das Bundesverkehrsministerium, heute mehr denn je. »Damit sind wir eine der führenden Fahrradnationen. Immer mehr Menschen verzichten vor allem bei Distanzen von bis zu 15 Kilometern auf ihr Auto und nehmen stattdessen das Fahrrad.« Die Fakten allerdings protestieren.

Scheinheiliger Schwindel

Seit die interessierte Öffentlichkeit die Ergebnisse der neuesten Untersuchungswelle ›Mobilität in Deutschland‹ zur Kenntnis nehmen kann, drängen sich Zeitvergleiche auf. Im Jahr 2002 besaßen 75 Prozent der Befragten ein fahrtüchtiges Fahrrad. Dieser Wert stieg zwar bis zum Jahr 2008 auf 78,1 Prozent, sank dann aber bis zum Jahr 2017 wieder auf 77 Prozent, inklusive der erstmals separat erfassten Elektrofahrräder bzw. Pedelecs. Während 2002 noch 19 Prozent der Befragten angaben, das Fahrrad täglich zu nutzen und sogar 40 Prozent die mindestens wöchentliche Nutzung bekundeten, sank dieser Wert schon in der nächsten Erhebungswelle im Jahr 2008 auf 18,8 bzw. 39,1 Prozent und liegt mittlerweile nur noch bei 18 bzw. 35 Prozent. Auch Bike Sharing bietet dafür keine Erklärung, denn das wird lediglich von fünf Prozent der Befragten und auch nicht häufiger als an drei Tagen im Monat genutzt.

Sogar selbst ernannte Vorreiter wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen stehen schlecht da. Trotz einer vergleichsweise langen und fest verankerten Tradition der Radverkehrsförderung — zumindest gemessen an den Mitgliedschaften in entsprechenden Netzwerken und an politischen Absichtsbekundungen — verzeichnet das Möchtegern-Musterland zwischen 2002 und 2017 einen Rückgang im Fahrradbesitz von 75 auf 73 Prozent, trotz des so viel beschworenen ›Pedelec-Booms‹. Wesentlich gravierender: Statt vormals 39 Prozent der Befragten, die mindestens ein Mal wöchentlich Fahrrad fahren, liegt der Anteil dieser Vielnutzer nun bei nur noch 32 Prozent.

Die bundesweite Steigerung des Radverkehrsanteils zwischen 2002 und 2017 von neun auf elf Prozent geht übrigens überwiegend auf einen statistischen Effekt zurück: In diesem Zeitraum sank die Zahl aller täglichen Wege in Deutschland von 270 auf 257 Millionen. Während der Radverkehr vier Millionen und der Öffentliche Verkehr sogar fünf Millionen Wege zulegte, büßten Fußverkehr und MIV sechs bzw. 16 Millionen Wege ein.

Dahin, wo es weh tut

Wir müssen schlussfolgern: Seit 2002 fahren in Deutschland immer weniger Menschen Fahrrad, dies aber häufiger; einen Teil der Wege haben sie dabei vom Zufußgehen geklaut. Klassische Radverkehrsförderung konnte bislang also kein einziges neues Herz fürs Radfahren begeistern, sondern hat im Alltagsverkehr sogar fünf Prozent verloren. Auch der Verlust von 16 Millionen Wegen im Pkw-Verkehr nützt niemandem. Denn der schädliche Verkehrsaufwand mit Kraftfahrzeugen hat im fraglichen Zeitraum dennoch um 56 Millionen Personenkilometer zugenommen — pro Tag! Mit vier Millionen Radfahrenden und knapp einer Million Menschen mit wenigstens einem betriebsbereiten Fahrrad weniger kann wohl nicht die Rede davon sein, dass dieser Trend kurz- oder mittelfristig durch das Radfahren einzudämmen wäre.

Auch die Behauptung, das fände vor allem auf den kurzen Wegen immer mehr statt, greift kaum. Schon im Jahr 2002 hatten MIV-Fahrer und -Mitfahrer in allen Entfernungsklassen ab einem Kilometer die Nase vorn, so auch heute. Richtig ist: Im Bereich von einem bis fünf Kilometern Länge sank deren Anteil bis 2017 von 62 auf rund 54 Prozent; allerdings stieg der Radverkehrsanteil hier nur von zwölf auf rund 17 Prozent. Im Bereich zwischen fünf und zehn Kilometern fielen die Veränderungen sowohl für den MIV (von 76 auf 72 Prozent) als auch für den Radverkehr (von fünf auf acht Prozent) dagegen nur noch halb so stark aus. Wenn dies also die einzige gute Nachricht aus fünfzehn Jahren Radverkehrsförderung bleiben sollte, dann stellt sich wohl langsam, aber bestimmt eine Grundsatzfrage. Allerdings nicht, ob, sondern wie Radfahren sinnvoll zu fördern wäre. Denn alle bisherigen Konzepte scheinen vorerst gescheitert.

Update, 14.02.2019: Wo der Radverkehr in Deutschland tatsächlich steht, bringt der Kababarettist Andreas Rebers hervorragend und sehr plastisch auf den Punkt: »Autofasten? Ich habe noch nie ein Auto gegessen.«