Weil das Neun-Euro-Ticket den ÖPNV von nun an zum Erfolg verdammt, versucht der, es zu torpedieren. Ein Kommentar.
11.08.2022 | 10 Minuten
Der Schock sitzt tief: Das Neun-Euro-Ticket für den Öffentlichen Nahverkehr in Deutschland kann den Klimawandel nicht aufhalten! Denn laut mehrerer Berichte habe es nicht nur keine klaren Klima-Effekte ausgelöst, sondern sogar zu mehr Verkehr beigetragen. Aus umweltpolitischer Sicht ein Super-GAU. Oder doch nicht? Drei Anmerkungen dazu.
Alles andere wäre Magie
Zunächst geht es um die Ansprüche, die sich — wollten wir dem Rauschen im Blätterwald Glauben schenken — mit dem Ticket verknüpfen. Es ist hinlänglich bekannt, dass es den Menschen durchaus Jahre kosten kann, seine Gewohnheiten zu verändern. Wer wollte also seriös fordern, nach nur drei Monaten Niedrigpreis im Nahverkehr sei die Klimakrise abgewendet? Versetzen wir uns außerdem einmal in die Lage der Neukund:ainnen: Regelmäßig, vielleicht sogar ausschließlich, mit dem Auto unterwegs, sollen sie nun ihr immenses Sicherheits- und Komfortbedürfnis vollständig in den Wind schlagen und durch einen totalen Umstieg eine einhundertprozentige Wette abgeben auf ein Produkt, das sie noch gar nicht kennen? Wer von uns kauft sich Schuhe, ohne sie zuvor anzuprobieren?
Rund fünfzig Prozent der Bevölkerung, so eine alte Faustregel, wissen so gut wie gar nichts über den ÖPNV, geschweige denn etwas über ihren eigenen Nutzen davon. So ließen sich die 25 Prozent der durch das Neun-Euro-Ticket zusätzlich induzierten Wege eben ganz einfach als Probefahrten mit dem ÖPNV deuten. Dass es sich dabei gar nicht mal um eine sehr hohe Quote handelt, zeigt der Blick wiederum auf den motorisierten Individualverkehr: Hier finden Fahrten statt, ebenfalls im Umfang von rund 25 Prozent, die gar nicht sein müssten — und zwar nicht, weil die Nutzenden das Auto erst noch kennen lernen müssen, sondern einfach, weil es sie bequemt.
On-Demand-Verkehre, Elektromobilität, Gratis- oder Billig-Tickets im ÖPNV: Die Diskussion um eine zukunftsfähige Mobilität verstrickt sich, dank vieler ahnungsloser oder zumindest leichtgläubiger Personen an allen wichtigen Stellen, immer wieder und immer stärker in Fantasien von einzelnen, dafür übermächtigen Heilsbringern. Doch weder das menschliche Verhalten noch unsere aktuellen Verkehrssysteme sind so simpel gestrickt, wie sie es sein müssten, um solche Erzählungen auch nur annähernd wirklichkeitstauglich erscheinen zu lassen. Es werden weder Einhorn noch gute Fee auftreten und die Verkehrswelt mit ein wenig Glitter wieder in Ordnung bringen. Im Blick auf diese sprichwörtlich verfahrene Kiste halte ich die Daten, die das Neun-Euro-Ticket bislang generieren konnte, sogar für phänomenal.
Ein Spiel dauert 90 Minuten
Deren Etiketten lauten übrigens ›vorläufig‹ und ›dünn‹. Es zeichnet die ungeduldige Debattenkultur in Deutschland leider regelmäßig aus, dass sie schon einen Skandal wittert, wo der erforschte Prozess noch gar keinen Abschluss fand. Genauso schwer ließe sich über den Geschmack einer Pizza urteilen, die erst ein Drittel der üblichen Backzeit im Ofen verbrachte. Bereits nach dem ersten von drei Monaten Laufzeit eine Sonderaktion abzuurteilen, noch dazu in einer Kategorie, die sich gar nicht zu bedienen beabsichtigt hatte, zeugt doch wohl eher von einer — gar nicht mal so gut — versteckten Agenda: nämlich Stimmung dagegen zu machen und zu verhindern, dass sie sich wiederholt, ob nun in dieser oder einer anderen Form.
Nun stehen die Unternehmen des Öffentlichen Nahverkehrs in Deutschland in dem Ruf, viel von ihren Financiers zu fordern, aber selbst wenig zum Erfolg beitragen zu wollen. Vor etwas mehr als zehn Jahren, was in der Innovationsgeschwindigkeit des ÖPNV nicht sehr viel Zeit bedeutet, hieß es noch:
»Zahlungen [an die Unternehmen] basieren meist auf Kostenbasis oder erfolgen in Bezug auf den getätigten Aufwand und sind nicht erfolgsorientiert; Fahrgaststeigerungen spielen keine Rolle. Die Art der Förderstrukturen führte zu einer zunehmenden Ausrichtung der betrieblichen Strategien auf die Optimierung der staatlichen Zuschüsse. […] Das Know how der Branche ist in der Praxis weitgehend verengt auf die betriebswirtschaftliche Optimierung der Betriebsabläufe und die Optimierung der öffentlichen Zuschüsse.«
Der Unfähigkeit der ÖPNV-Szene, ihren Kund:innen einfache und damit attraktive Tarif-Angebote zu machen, hilft das Neun-Euro-Ticket einstweilen ab, wenn auch par ordre du mufti. Die Szene steht nun also vor der Wahl: den Wind of Change zu nutzen und sich weiterzuentwickeln, oder die Ausnahme madig zu machen, um sich selbst nicht bewegen zu müssen. Für Option Nummer eins gälte es allerdings, das Spiel nicht schon nach dem ersten Drittel als verloren zu beschreien.
Von nichts kommt nichts
Option zwei würde dagegen erfordern, jetzt erst recht die Ärmel hochzukrempeln. Nicht ohne Grund fordern diverse Experten, nicht nur der Preis, auch das Angebot müsse besser werden. Erst kürzlich vernahm ich an einem Hauptbahnhof die Durchsage, ein Nahverkehrszug müsse ausfallen, weil es »aufgrund des hohen Fahrgastaufkommens zu verlängerten Ein- und Ausstiegszeiten« gekommen sei. Ein Transportsystem, das seine Rechnung bislang ohne die Fahrgäste gemacht hat, sieht sich selbstredend einem großen Berg an Hausaufgaben gegenüber, sobald die in noch größeren Mengen vor der Tür stehen.
Der Öffentliche Nahverkehr kann deutlich mehr. Indes: Aus Kundensicht hat keine Innovation der vergangenen fünfzig Jahre — auch nicht die BahnCard — so viel Charme versprüht wie ein Ticket, das ich in Hannover kaufen und auch in München nutzen kann; erst recht zu diesem Preis. Nicht die Systemeigenschaften des ÖPNV bremsen also, sondern die Köpfe in den Management-Etagen. Dass das Neun-Euro-Ticket einen solch vergleichsweise reißenden Absatz findet, muss zuallererst als Vertrauensvorschuss gelten. Und damit als Auftrag: Wenn der ÖPNV jetzt zupackt, stellen sich auch die Nutzenden ein. Dann, aber erst dann, klappt’s auch mit den Klimaeffekten.