Aktiv gegen das Igel-Syndrom

  8 Minuten  

Neben ihrer Bedeutung für die Bildung und Sozialisation junger Menschen finden sich Schulen vor allem am Schnittpunkt dreier Beziehungs-Stränge, deren Gestaltung ganz enorm auf die Prägung der Kinder und Jugendlichen einzahlt: Eltern — Kinder, Lehrer*innen — Schüler*innen und Kamerad*innen — Kamerad*innen. Sie alle stellen einen Pool an Entscheidungsvorlagen bereit, an denen junge Menschen sich noch viel stärker orientieren, als Erwachsene dies tun. Denn: »Wir beziehen unsere Urteile immer auf die Gruppe, mag sie auch noch so klein sein.«, sagt der Neuropsychologe Professor Lutz Jäncke. Auch die Hirnforscherin Franca Parianen betont: »Der Mensch ist besser im Imitieren als jede andere Spezies. Er lernt eher von anderen.«

Schädlicher Aktionismus

Dem tragen die Anliegen, um die Schule sich über ihren eigentlichen Auftrag hinaus sonst noch kümmern soll, leider nur sehr selten Rechnung. Ob Aktions- oder Projekttage zu Recycling, Naturschutz, Integration, gesunder Ernährung oder was-auch-immer: Das Prinzip ›Hit and run‹ garantiert, dass nichts davon tatsächlich Eingang findet in den Alltag der Schüler*innen. Im Gegenteil: Schulklassen mit nicht enden wollenden Begehrlichkeiten zu überschwemmen, doch bitte auch noch das nächste Weltverbesserungsthema zu bearbeiten, schadet ihnen als Lern- und Entwicklungsraum immens.

Dass sie sich noch dazu wie ein bedrohter Igel zusammenrollen und die Kontakte mit der Außenwelt gern auf ein für sie erträgliches — aber letztendlich zu geringes — Maß reduzieren wollen, mag einerseits dieser übermäßigen Beanspruchung geschuldet sein. Andererseits ergibt sich solches Verhalten leider auch aus einem grundlegenden Missverständnis, das dem deutschen Bildungssystem innewohnt: der Alltag der jungen Menschen spiele sich in verschiedenen Räumen ab, die per Definition nicht viel miteinander zu tun haben. Gebe ich mein Kind in der Schule ab, bin ich als Elternteil anschließend nicht mehr Teil des Geschehens. Wie keine andere trägt die Frage ›Was habt Ihr heute in der Schule gemacht?‹ eine Geisteshaltung der Separation nach außen. Die zeitliche Organisation der Kindheit ererbt ihre ›Verinselung‹ dabei ganz folgerichtig aus dem fragmentierten und verinselten Raum, wo ja auch der Wohnnahbereich einerseits und geschützte Bewegungsflächen für Kinder andererseits nicht mehr zusammenhängen. Der hilflose Versuch, die Wohninsel mit der Schulinsel zu verbinden, und zwar auf seit Jahrzehnten von außen eingetrichterte Weise, nennt sich dann Elterntaxi.

Chance erkennen

Das Phänomen an sich findet sich mittlerweile viel besungen. Hier und da entstehen auch in der Realität schon allergische Reaktionen, ob nun hochoffiziell oder durchaus auch durch Schüler*innen selbst. Wie so oft im Zuge der ›German Angst‹ kam bislang allerdings noch niemand auf die Idee, die reine Abwehr in eine Offensive umzudrehen: Dass Eltern ihre Kinder zur Schule begleiten, darf doch eigentlich als hoch sozialer Akt der Fürsorge und Zuwendung gelten. Daran lässt sich im Kern also gar nichts aussetzen. Im Automobil reduziert sich die zutiefst menschliche Geste aber leider auf einen rein technischen Transportvorgang. Das Kind wird zur apersonalen Fracht, die es gilt, möglichst kosteneffizient zuzustellen. Es herrscht dieselbe Hektik wie beim ausliefernden Personal der Kurier- und Paketdienste: Der Zettel im Briefkasten erspart die persönliche Übergabe.

Weshalb hat eigentlich noch niemand daran gedacht, das ›Elterntaxi‹ umzudeuten und mit der Begleitung per Fahrrad in Verbindung zu bringen? Wollen die Eltern sich nicht selbst entblößen, indem sie einfach an der Schule vorbeirauschen, während das Kind in den Schulhof einbiegt, müssen sie anhalten und — gemäß den Gesetzen der Physik — dadurch auch absteigen. Schon bieten sich vielfältige Möglichkeiten der Begegnung von Mensch zu Mensch: mit dem eigenen Kind, mit anderen Kindern, mit anderen Eltern, mit dem Lehrpersonal. Gespräche entstehen, die eigene, seelenfressende Hast wird wenigstens für eine kurze Zeit lang gestoppt und weicht der sozialen Interaktion. Die Schulinsel erhält eine Furt aus Menschsein in das Leben hinein.

Wirkungsvoller als jeder Aktionstag

Ganz nebenbei kann das elterntaxi.bike übrigens auch der ganzen unbeholfenen Radverkehrsförderung einen ausnahmsweise sehr wirkungsvollen Impuls geben: Denn solange irgendeine Aktion sich auf Schüler*innen und Schulen konzentriert, klinken Eltern sich als ›nicht betroffen‹ aus. Damit entfällt aber eine wichtige Multiplikation des erwünschten Verhaltens — hier des Radfahrens —, weil Kinder in der Schule dem Beispiel der Erwachsenen bzw. ihrer Gleichaltrigen folgen, zuhause aber dem Beispiel der Eltern (oder bestenfalls noch der älteren Geschwister). Junge Menschen, die ihre Eltern regelmäßig das Fahrrad benutzen sehen, werden mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit selbst regelmäßig Fahrrad fahren. Den Eltern böte sich mit der Aufgabe, ihre Kinder per Fahrrad zur Schule zu bringen, umgekehrt ein leichter und abgrenzbarer Einstieg; sogar dann, wenn sie aufgrund ihres eigenen Alltags selten radfahren.

spitzenkraft.berlin entwickelt Kriterien und Formate, um das elterntaxi.bike tatsächlich an möglichst vielen Schulen zu etablieren.