Die Ente in Zeiten der Epidemie

Nicht jeder Gedanke soll sich in Veröffentlichungen wiederfinden — zumal wenn seine Prüfung unterbleibt.

  06.03.2020 | 7 Minuten  

Soeben erklimmen ›Wissenschaftler und Tech-Unternehmen‹ den Olymp der Taugenichtse und Schießbudenfiguren. Dorthin katapultiert hat sie die Hauptstadtjournaille, denn die berichtete ungefiltert von Gedankenspielen des Robert-Koch-Instituts, Kontaktpersonen von Corona-Infizierten mithilfe von Mobilfunkdaten ausfindig machen zu wollen. »Nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts (RKI) wäre das Auslesen von Bewegungsdaten aus dem Mobiltelefon eine gute Möglichkeit, um Kontaktpersonen von Infizierten aufzuspüren und so die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.«

Von Eseln und Langohren

Die Autoren setzen diese Feststellung an das Ende ihres Textbeitrages, nachdem sie sich umfassend über datenschutzrechtliche Bedenken ausgelassen haben. Die Aussage: ›Wenn es möglich ist, dann muss es auch erlaubt sein. Worauf wartet Ihr noch?‹ Dankbar springen diverse Freizeit-Diskutanten nach diesem Stöckchen und schwadronieren über weitreichende Eingriffe in die persönlichen Grundrechte. Was fehlt: die gewissenhafte Überprüfung, ob der hohe Sensations-Wert der Nachricht allein ihre Veröffentlichung rechtfertigt, oder ob sie sich auf der Substanz-Seite am Ende als haltlose Spekulation in Luft auflösen könnte. Schon acht Stunden später müssen dieselben Autoren im selben Presseorgan nämlich zugeben, dass den deutschen Mobilfunkbetreibern leider nur Positions-, aber keine Bewegungsdaten ihrer Nutzer*innen vorliegen. Das hindert sie indes nicht daran, die rein technisch schon sehr geringen Erfolgsaussichten der Methode erneut mit einem umfassenden Pamphlet zum Interessenkonflikt zwischen Daten- und Patientenschutz zu übertünchen. Nerdige Tech-Begeisterung und skandalhechelnde Billigmoral schlagen journalistische Verantwortung.

Aus einem Tech-Haus selbst kommen dagegen leisere Töne. T-Online spricht davon, das Robert-Koch-Institut habe sich nur zurückhaltend zu dieser Idee geäußert und überhaupt lasse sich derzeit nicht erkennen, dass die Idee in der Praxis Umsetzung fände. Der Beitrag bringt eine zweite technische Hürde ins Spiel: In Ballungsräumen könne es zu gehäuften Falsch-Positiv-Meldungen kommen, weil sich viel mehr Menschen innerhalb derselben Funkzelle aufhielten und dann als Kontakt der infizierten Person gewertet würden. Die Fehlerquote, das erkennt, wer eine einzige Webseite nachschlägt, liegt aber sogar bei nur zwei Personen innerhalb der Funkzelle in einem hohen Prozent-Bereich: Denn weil auch die kleinsten Funkzellen laut dem Bundesamt für Strahlenschutz mindestens mehrere zehn Meter messen, müssten die Datenpunkt-Paare sich in der Wirklichkeit nicht einmal in Sichtweite zueinander aufgehalten haben und würden dennoch als Kontakt erkannt.

Teil des Systems

Auch angesichts des regelmäßigen Deutschland-Bashings wegen dessen unzureichender Flächenversorgung mit Mobilfunk, an dem das Hauptstadtblatt sich sogar mit Drehbuch reifen Roadmovies in Textform beteiligt, wäre die Reflexion darüber angezeigt gewesen, ob das Mobilfunk-Tracking von Infizierten wie auch ihren Kontaktpersonen möglicherweise schon allein aufgrund zu vieler Erfassungslücken gar keine Chance hat. Die Branchenzeitschrift Chip fand Ende des Jahres 2019 noch immer rund 6.000 Funklöcher. Über den Koordinationsaufwand und die Kosten der Maßnahme sprechen wir noch gar nicht.

Der Kybernetiker Heinz von Foerster formulierte in einem Interview: »Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen. Wir sind blind gegenüber unserer eigenen Blindheit, das ist ein Beispiel für eine Problematik der zweiten Ordnung.« Mit ihrer Kritik- und Kontrollfunktion, gar ihrem Status als ›vierte Gewalt‹ können Journalisten eigentlich gar nicht anders, als sich selbst in die Position des ›Beobachtenden oder Beschreibenden zweiter Ordnung‹ zu versetzen, wie auch Niklas Luhmann es nennt: also in die Position dessen, der ein System dabei beobachtet, wie es sich selbst beschreibt. Dass die Beobachtenden aber immer häufiger selbst dem System angehören, mag sich aus vielerlei Ursachen erklären. Einem verbreiteten Verständnis zufolge gälte es, insbesondere »Relevanz, Vielfalt, Aktualität, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit, Rechercheleistung und Kritik« des Journalismus zu stärken. Doch die Geometrie lehrt uns, dass erst der Schritt vom Gegenstand weg, die größere Distanz, alle seine Aspekte in den Blick rückt — und dabei hilft, verspielte Halbnachrichten zu vermeiden, die, abgesehen vom Begeisterungsschub der Autoren für das Thema, sonst keinen Nutzen schaffen.