Langfristigen Schutz vor Corona können nur adäquate Gewohnheiten bieten.
01.05.2020 | 8 Minuten
Nun also doch: Jetzt kommt auch für Berlin die Maskenpflicht im Einzelhandel. Dass die Corona-Regelungen sich zwischen den einzelnen Bundesländern unterscheiden, fällt für den Gesundheitsschutz einer Person gar nicht so sehr ins Gewicht. Dass sich innerhalb eines und desselben Geltungsbereiches die Pflichten immer wieder ändern, und zwar nicht als Folge aus einem wohlsortierten und nachvollziehbaren Stufenplan, sondern als Ergebnis von Gruppendruck unter Ministerpräsidenten, dagegen schon.
Nicht Worte steuern das Verhalten
»Wenn die öffentliche Debatte so entscheidend ist für die Meinungsbildung und damit für das Verhalten der Einzelnen in der Epidemie, dann sollte man sich um sie ebenso sehr bemühen wie um saubere Hände.«,forderte jüngst ein Beitrag auf ZEIT ONLINE. Er erliegt zwei Irrtümern: Erstens stünde einer demokratischen Debatte die Pfleglichkeit grundsätzlich an, unabhängig davon, welche Resultate sie überhaupt zeitigen soll. Denn Demokratie als Aushandlung der unterschiedlichen Interessen lässt sich nur mit Maß und Fairness erfolgreich betreiben. Zweitens aber entscheidet die öffentliche Debatte eben nicht über das individuelle Verhalten, jedenfalls nicht auf direktem Wege, sondern höchstens über große Umwege. Der Mensch, so legt die Forschung es nahe, handelt zuerst und bildet sich danach eine dazu kohärente Meinung. Die persönliche Einstellung bleibt allenfalls so lange stabil, bis eine reale Handlung eintritt — die dann aber nicht im Mindesten der Einstellung entsprechen muss.
Die Handlung aber richtet sich nach einem einzigen, knallharten Kriterium: Erfolg. Den vormals als Superstars gefeierten Spiegelneuronen schreiben Neurowissenschaftler mittlerweile die Verantwortung zu, den Zweck einer beobachteten Handlung in Anweisungen für das eigene motorische System zu übersetzen. Ob die Person selbst eine solche Handlung ausführt oder gar langfristig in ihr Verhalten integriert, hängt zu einem weit überwiegenden Teil davon ab, ob sie damit einen verbesserten Zustand erreichen kann. Das nennt sich Belohnung. »Menschen verändern sich nur dann, wenn sie sich davon bewusst oder unbewusst eine Belohnung versprechen«,stellt der Hirnforscher Professor Gerhard Roth in seinem Buch (Seite 310) fest. Die könnten, so Roth weiter, materieller, sozialer oder intrinsischer Art sein. Von rationalen Schlussfolgerungen aus einer öffentlichen Debatte ist da keineswegs die Rede, im Gegenteil: Mehr als 99 Prozent seiner Entscheidungen trifft der Mensch unbewusst.
Der Plan 0 entscheidet
Der Status Quo erlangt in diesem Zusammenhang eine große Vetomacht, denn: »Die Ausbildung von Gewohnheiten und Routinen und das Festhalten an ihnen entlastet auch unser Gehirn, und dies ist ebenfalls eine starke Belohnung.«,so Roth. Was die Veränderung so schwer macht: Die Belohnung für eine neue Verhaltensweise müsse deutlich größer ausfallen als für die gewohnte. Besser könne eine Veränderung gelingen, indem zu den üblichen Gewohnheiten eine neue hinzutritt. Das kann, je nach Persönlichkeit und Verhaltensweise, unterschiedlich lange dauern.
»Oftentimes we are held back by what we believe to be the safe option, simply because it is the default.«,heißt es aus der US-amerikanischen Psychologie. Aber wer behauptet, das eine erwünschte Verhaltensveränderung — ob nun zum Schutz vor Corona oder in der täglichen Fortbewegung — stets gegen den Status Quo ankämpfen muss? Smarter wäre es doch, selbst eine neue Werkseinstellung zu etablieren. Das dürfte im Gesundheitsschutz deutlich leichter fallen, etwa durch verbindliche Anordnungen. Im Falle der Corona-Abwehr könnte das so aussehen: Das Tragen von Mund-und-Nasenschutz müsste generell zur Pflicht außerhalb des eigenen Wohnbereichs erklärt werden. Ausnahmen davon wären nur individuell und stark ortsspezifisch zulässig. Auch die Abstandsregelungen müssten ununterbrochen physisch erlebbar werden und dürften nur in begründeten Einzelfällen außer Kraft treten.
Wenn schon seit einigen Tagen ein nennenswerter Teil der Menschen also wieder so sorglos und ungeschützt wie vor der Epidemie durch die Weltgeschichte schlendert und dabei nicht nur den eigene Gesundheitsschutz vernachlässigt, sondern auch fortwährend die Mitmenschen in der unzulässigen Nähe in Gefahr bringt, liegt das keineswegs an den verschiedenen Interventionsstrategien der Bundesländer. Es liegt vielmehr daran, dass das einzelne Bundesland oder auch die einzelne Stadt eben keine echte Strategie verfolgt, sondern noch immer chaotisch an den Einstellungen herumspielt, sodass kaum jemand sich verbindlich orientieren kann. Es gilt, innerhalb eines Geltungsgebiets nicht nur einheitliche, sondern über die Zeit konsistente Standards zu etablieren und nicht sie, sondern die Abweichungen davon zur Ausnahme zu machen. Erst dann können die Menschen sie erfolgreich in ihr Verhalten integrieren.