Wir kommen in Frieden!

Erfolg verleiht Flügel. Das Fahrrad aber steht für solide Bodenhaftung. Es heißt also auch mit Berliner Fahrradgesetz: nicht abheben!

  01.03.2018 | 7 Minuten  

Liebe Berliner Radlerinnen und Radler, Ihr habt Großartiges erreicht! Als erstes deutsches Bundesland überhaupt geht Berlin einen Schritt, von dem Generationen von Vélo-Enthusiasten nur geträumt haben: Der Stadtstaat gibt sich ein eigenes Fahrradgesetz. Der Pfad bis dorthin mag von Schlaglöchern im respektvollen Ton zerklüftet und von den Winden des gegenseitigen Misstrauens eisig umweht gewesen sein; zeitweise schienen Vorder- und Hinterrad jeweils in unterschiedliche Richtungen auszubrechen und damit den Fortschritt mitten entzwei zu reißen. Allein, am Ende steht tatsächlich der Gesetz gewordene Anspruch, den Radverkehr nach vorne zu bringen. Das verdient größte Anerkennung gegenüber allen Beteiligten in ihren jeweils spezifischen Rollen. Wenn Medien in ihrer Bewertung dieser beispiellosen Entwicklung zwischen Realismus und Euphorie schwanken, zeigt das nur, als wie weit entfernt vom politischen Standard solch beherzte Initiative noch gelten muss. Deshalb werden die Impulse aus dem Radgesetz vermutlich nicht nur die Bundeshauptstadt beflügeln, sondern vielleicht auch ganz Fahrraddeutschland. Dafür sorgt nicht zuletzt und völlig zu Recht der Deutsche Fahrradpreis, den die Initiative vor einer Woche erhielt. Euch allen, die Ihr daran mitgewirkt habt, sei ein großer Dank!

Erfolge füttern Egos. Diese Weise gehört genauso zur Melodie des Lebens wie die verschiedenen Misstöne, wenn manches Instrument im Orchester neu gestimmt werden muss. »Der kritische Teil kommt erst noch«, sagt Heinrich Strößenreuther anlässlich der Verleihung des Deutschen Fahrradpreises am 22. Februar 2018 in Essen, »denn jetzt werden einige Verkehrsteilnehmer zunächst etwas verlieren.« Er spricht von Fläche genauso wie von Privilegien; beides wird den bisherigen Günstlingen ein Stück weit verlustig gehen. Denn eine Wende ist nie zum Nulltarif zu haben. Also wieder nur der Kampf um das ›Blech des Stärkeren‹, höchstens mit anderen Mitteln?

Die Saat, die Du ausbringst …

Es liegt in der Hand der Aktivistinnen und Aktivisten selbst, ja in der Hand der gesamten Radlerschaft, das neue gesellschaftliche Ausbalancieren nicht in ein rohes Hauen und Stechen ausarten zu lassen. Denn schon jetzt nerven nicht nur falsch parkende Pkw, sondern auch dunkle Gestalten, die ohne Licht am Fahrrad über nächtliche Gehwege schleichen oder gar arglose Fußgänger ohne Warnzeichen von hinten überholen; schon jetzt erzürnen nicht nur rücksichtslose Blechpiloten, sondern eben auch die berufsradelnden Milizen, die unerbittlich und mit Karacho durch Wolken aus desorientierten Fahrgästen pflügen, weil der rote Radweg nun einmal dummerweise an der Bushaltestelle vorbeiführt; schon jetzt sprengen nicht nur motorisierte Lawinen das hübsche Idyll von Städten und Dörfern, sondern auch gefledderte Fahrradleichen. Der Wiener Verkehrsprofessor Herman Knoflacher postuliert: In Österreich und auch Deutschland handele es sich bei den Radfahrern häufig um ehemalige Blechpiloten, die Dominanz und Bevorzugung gewohnt seien und selbige für sich auch auf dem Fahrrad einfordern.

Doch genau hier entsteht der Casus Knacksus: Fordern allein reicht nicht mehr. Jetzt gilt es, zu kultivieren. Das Berliner Fahrradgesetz markiert ja nicht ein völkerrechtliches Mandat zur Befreiung einer unterdrückten Rasse, sondern stattdessen den Beginn eines zivilisierten Aushandlungsprozesses über öffentliche Güter, ihren Wert und ihre Verteilung unter allen. Wohl eher aus Marketinggründen so prägnant ins Wort gebracht, aber nachträglich doch mit prophetischen Klang, wird sich der ›Radentscheid‹ in der Tat als Prüfstein erweisen: zwar auch darüber, ob die örtliche Gemeinschaft sich in der Lage zeigt, veränderte Verhältnisse neu zu ordnen; aber vor allem: ob die Radelnden durch ihr eigenes Verhalten im Angesicht des Aufwinds beweisen können, dass ihre Absichten tatsächlich so erhaben, ihre Ideale so wahrhaft sind, wie sie scheinen sollen. Es gliche einer Tragödie, wenn die neu gewonnene Legitimation sie korrumpierte. An ihrem Betragen sollt Ihr ihre Botschaft erkennen. Die darf eigentlich nur lauten: Wir kommen in Frieden!