Unverhohlene Trickserei

Das Bundesministerium für Verkehr markiert mit dem neuen Nationalen Radverkehrsplan einen Tiefpunkt in der institutionellen Radverkehrsförderung.

  24.04.2021 | 7 Minuten  

Zumindest kann niemand behaupten, Andreas Scheuer ließe sich von Anstand oder Respekt in seinen persönlichen Ambitionen bremsen. Bei seiner Berufswahl scheint es sich dagegen um einen Unfall zu handeln, vermittelt doch sein übliches Auftreten fortwährend den Eindruck, er habe sein Amt seinerzeit eigentlich im Wirtschafts- statt im Verkehrsministerium antreten wollen. Darin mag auch der Grund liegen, weshalb er sein Desinteresse an der Radverkehrsförderung nicht einmal halbherzig zu tarnen versucht.

Billiger Schwindel

Denn nicht anders lässt sich das Machwerk lesen, das von jetzt an als strategische Grundlage aller nationalen, regionalen und lokalen Anstrengungen für mehr Radverkehr dienen soll. Schon die Leitziele des Nationalen Radverkehrsplans 3.0 wirken nicht nur wie das Ergebnis besinnungslos zusammengepuzzelter Glückskeks-Phrasen, sie bilden die Wirklichkeit auch noch völlig falsch ab. Lückenloser Radverkehr beispielsweise existiert in ganz Deutschland flächendeckend bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts; der Kraftverkehr ist es, der solche Lücken reißt, dass keine separate Radverkehrs-Infrastruktur dieser Welt sie schließen kann. Der heuchlerische Plan verkehrt die Verhältnisse also ins Gegenteil und vermittelt das Bild, Radfahrende gehörten noch nicht so richtig zum Straßenverkehr dazu. Das passt als Push-Ansatz selbstredend hervorragend zu Scheuers beinahe schon pathologischem Pull-Schwerpunkt in Richtung Autoindustrie.

Richtig peinlich müssten den Autoren aber sämtliche Zahlen werden: Im Rahmen der Online-Beteiligung gingen 2.410 Rückläufe ein. Zum Vergleich: Das Land Rheinland-Pfalz — nur rund fünf Prozent der Einwohner der Bundesrepublik Deutschland leben dort — generierte im Rahmen seines Mobilitätskonsenses von 2019, bei dem es um weit weniger spezifische Verkehrsthemen ging, mehr als 7.000 Online-Rückläufe. Wenn der NRVP 3.0 darüber hinaus die Distanz je Fahrradfahrt von 3,7 auf sechs Kilometer erhöhen will (Seite 9), liegt dem keine sachlogische Erwägung zugrunde. 58 Prozent aller Wege und 82 Prozent aller Fahrradfahrten sind maximal fünf Kilometer lang; weshalb sollten wir also eine Verlängerung übers Knie brechen, obwohl der Trend in der Mobilitätsdebatte doch eigentlich zu kurzen und kürzeren Wegen geht? Der Grund findet sich im gewählten Erfolgsindikator: Die Menge der Personenkilometer per Fahrrad kann sich ansonsten nicht wie gewünscht erhöhen, denn offensichtlich soll die Zahl der Fahrten nur um 50 Prozent steigen.

Kleiner Neben-Skandal: Nach den Daten von Mobilität in Deutschland 2017 legt jede Person im Schnitt 3,1 Wege pro Tag zurück, das ergibt 1,131,5 Wege pro Jahr. 120 Fahrradfahrten pro Person und Jahr entspricht dem Modal-Split-Anteil von rund zehn Prozent, von dem der Radverkehr seit den 1980er-Jahren nicht wegkommt. 180 Fahrradfahrten pro Jahr entspricht dann rund 16 Prozent Anteil am Modal Split — also kein wirklich höherer Wert als der, den bereits der Nationale Radverkehrsplan 2020 genannt hatte. Das ohnehin nicht sehr ambitionierte Ziel des letzten Plans haben Scheuers Schergen also einfach mal um zehn Jahre in die Zukunft verschoben.

Ekelhafter Applaus

Zusammengefasst meint das Bundesverkehrsministerium also: Damit ein Ziel, das wir krachend verfehlt haben, auch in zehn Jahren noch gut aussieht, aber gleichzeitig nicht erschreckend, sondern nur moderat mehr Fahrrad gefahren werden muss, erhöhen wir die erwünschte Distanz pro Fahrt und rücken die zurückgelegten Kilometer ins Rampenlicht. Dass die als Maß für Mobilität gar nicht taugen und noch dazu nichts zum Klimaschutz beitragen, weil es dafür stattdessen auf die Menge der vermiedenen Kfz-Kilometer ankommt, verschweigen wir einfach. Mit solchen Haarspaltereien halten wir uns auch gar nicht auf. Lieber streuen wir Glitzer drüber.

Nun war aus diesem Hause auch nichts anderes als billige Gaukelei zu erwarten. Was viel mehr schockieren muss: Das (Fach-) Publikum scheint das Blendwerk zu schlucken oder sogar zu goutieren. Abgesehen von Pressehäusern, die allein mit den Zahlen schon überfordert scheinen und die Erhöhung der Distanz pro Fahrt mit der gestiegenen Zahl an Fahrten gleichsetzen, obwohl beide Größen völlig unabhängig voneinander sind, klatschen der ADFC und der baden-württembergische Verkehrsminister Beifall. Eine herbe Enttäuschung — wenn auch schon länger absehbar