Potenzial zur Killer-App

Nicht die Fläche, sondern die soziale Praktik kann Warenhäuser und Innenstädte retten.

  12.07.2020 | 11 Minuten  

Monokulturen vernichten Vielfalt und schaden dem Organismus. Vor allem aber zwingen sie in eine grundlegende Abhängigkeit und verhindern jede Resilienz: Fällt die Kultur, stirbt das gesamte System. Die — übrigens seit Jahrzehnten schwelende — Diskussion über die Krise der Warenhäuser und deren Konsequenzen für verdichtete Lagen, beispielsweise Innenstädte, scheint das zwar in Zeitlupe, aber dennoch gründlich abzubilden: Das große Aussterben von Karstadt-Kaufhof droht, viele deutsche Cities waidwund zurückzulassen. Das gewinnt deshalb noch an Tragik, weil viele Stadtsoziologen, -geographen und Einzelhandelsforscher ebenfalls seit Jahrzehnten auf die eigentliche Stärke von Innenstädten hinweisen: die vielfältige und kleinteilige Landschaft aus dezentralen und funktional differenzierten Gelegenheiten: shoppen, plauschen, ansehen, verweilen, flanieren, genießen, Besorgungen machen, Geschäfte tätigen, entspannen usw.

Tempel der mentalen Verödung

Dass Warenhäuser — und ihre obszönen Überspitzungen, die Malls — darüber hinaus auch der Demokratie schaden, stellte mancher Autor ebenfalls schon vor vielen Jahren fest: »[Damit] werden nicht Orte geschaffen, die von möglichst vielen Gruppen der Gesellschaft angeeignet werden können, sondern Orte und Gebiete für strategisch ausgewählte Teile der Gesellschaft. Normativer Bezugspunkt ist also nicht die Inklusion und Gleichheit aller als citoyen, sondern eine Differenzierung der Bürgerrechte und damit ein Ausschluss bestimmter Gruppen. In paradoxer Weise greift dabei die Gestaltung dieser Orte vielfach kollektive Bilder von historischen ›öffentlichen Räumen‹. […] Letztlich manifestiert sich damit ein konkurrierendes Leitbild von ›öffentlichem Raum‹: ein physischer Raum, der für Konsum, Erholung und Unterhaltung offen zugänglich ist — allerdings nur für die passende Klientel.«

Wo die Häufung von Menschen, wie eben in Warenhäusern und Einkaufszentren, zwar höhere Umsätze bezweckt, aber gleichzeitig echte Begegnung unterbindet, wächst die Anonymität zwischen Konsumenten sich noch dazu zur Konkurrenz um Aneignung aus: von Produkten, von Bedienung durch das Servicepersonal und sogar von Bewegungsfläche. Der Kunde verkommt zum Melkvieh in einer Massenhaltung. Das führt nicht nur jeglichen Gedanken gesellschaftlicher Aushandlung ad absurdum. Die griechische Agora lebte ja nicht allein von atomisierten Einzelgeschäften, sondern von wirtschaftlicher, sozialer und politischer Konfluenz. Mangelnder Austausch zwischen Menschen mindert darüber hinaus auch die Funktionsfähigkeit des Marktes selbst und trägt zu seinem Versagen bei, indem er beispielsweise den Abbau von Informationsasymmetrien verhindert. Möglich, dass das Prinzip der sozialen Bewährtheit, das sich etwa im berüchtigten Amazon-Mechanismus ›Kunden, die diesen Artikel kauften, kauften auch …‹ findet, die Warenhäuser in den Untergang trieb — weil es dort fehlt. Am Ende gehen sie an einem Widerspruch zugrunde, den sie jahrzehntelang duldeten: An einem Ort mit größtmöglichem Potenzial zur sozialen Interaktion ist genau das unerwünscht: die soziale Handlung.

Flächen in Bewegung setzen

»The ›killer-apps‹ of tomorrow’s […] industry won’t be hardware devices or software programs but social practices.« Das schrieb Howard Rheingold in seinem im Jahr 2002 erschienenen Buch ›Smart Mobs. The Next Social Revolution‹ — also rund ein halbes Jahrzehnt vor der Markteinführung des ersten Smartphones. Rheingold adressierte, dass sollte im ersten Moment durch die eckigen Klammern vertuscht werden, eigentlich die »mobile infocom industry«. Letzten Endes gilt aber eigentlich für alle Produkte: Ihre Beschaffung soll entweder maximal einfach möglich sein, was die Online-Handelsplattformen beispielhaft vormachen, oder zusätzliche Synergien erzeugen. Der mühevolle Einkauf unter den Bedingungen eigener physischer Anwesenheit muss einen höheren Lohn bieten als nur ein paar Prozente Preisnachlass. Der smarte Kniff liegt stattdessen darin, das Shopping mit Social Practices zu verknüpfen oder gar als solche zu platzieren. Das physisch existente und räumlich exakt bestimmbare Warenhaus bietet die perfekten Voraussetzungen dafür. Allein, jeglicher Ansatz in dieser Richtung fehlt den derzeit kursierenden Rettungsideen, weshalb sie wahrscheinlich auch nicht fruchten werden. Sie bieten lediglich eine kognitive Vereinfachung, um mentale Energie zu sparen. Denn sie ersetzen die Frage nach der Leben erhaltenen und Attraktivität steigernden Balance des komplexen Organismus Innenstadt mit der Frage nach der Rendite bestimmter Funktionen auf einer bestimmten Fläche. Schon die Beziehungen zwischen dem Drinnen des Warenhauses und dem Draußen der gesamten Innenstadt kommen darin höchsten als Parkraumkonzept vor. Mehr noch: In dem Maße, wie der Warenhaus-Klotz sich als raumabweisende Festung gegen jede Interaktion mit der Straße stemmt, lässt er die Innenstadt bzw. die umgebende Lage an Reizen verarmen. ›Enriched Environment‹ lautet umgekehrt das Stichwort. »Die Menschen zieht es zur Schönheit«, sagt beispielsweise Professor der Verkehrsplaner Professor Hermann Knoflacher. »Historische Städte haben immer in Entfernungen von zweihundert bis zweihundertfünfzig Metern Plätze.«

Eine ganz bestimmte und potente soziale Praxis vollzieht sich schon jetzt direkt vor der Tür der Warenhäuser: das Flanieren. Sie müssten es nur noch viel stärker hereinlassen, sich selbst dafür viel durchlässiger machen. »Ein Tor, wer in seiner Freizeit in den eigenen vier Wänden versauert. Schon wenige Sonnenstrahlen locken vor die Tür. Dabei muss der Zerstreuung Suchende nicht einmal in die Ferne schweifen. Auf der heimischen Piazza einen Cappuccino schlürfen, den Weisen der Straßenmusiker lauschen, angeregte Gespräche, ein laues Lüftchen im Sonnenhut und ein gutes Buch auf schattiger Bank — solches Erlebnis bietet ein gutes Zentrum, zumal das einer Stadt, eines Stadtteils oder eines Dorfes.«, schrieb ich einst. Das Warenhaus als monokultureller und monofunktionaler Klotz hat in den Shopping-Gepflogenheiten des 21. Jahrhunderts erstens keine Überlebenschance und darf zweitens auch nicht weiter ungestraft die Verödung der Lage betreiben; beides auch nicht mit aufgeblähtem Nutzungsmix. Es kann sich nur retten, wenn es sich mit mindestens genauso sozialer wie kommerzieller Funktion in den Dienst des (innerstädtischen) Zentrums stellt. Das erfordert freilich gänzlich andere, vor allem aber dynamische statt statischer Geschäftsmodelle — die indes längst existieren. Den Flächeneignern, dem Einzelhandel, den Kunden, der Innenstadt und der Demokratie insgesamt nutzten etwa Wochenmärkte deutlich mehr als der nächste monokulturelle Klotz, sei er nun grundsaniert oder neu gebaut. Der wird in absehbarer Zeit wieder brach fallen und die Krise lediglich wiederholen. Für die Rettung des Warenhauses, des Einkaufszentrums und der Innenstadt an sich braucht es deshalb Konzepte, die die Menschen nicht ausschließlich als passive Profitobjekte einplanen, sondern die Räume und Chancen eröffnen für die soziale Praxis oder gar für die Co-Kreation.