Wer feiert schon die Sparsamkeit?

Die Mobilitätswende wird scheitern: und zwar an unserer perversen Panik, ein Grundrecht zu verlieren — das uns gar nicht zusteht.

  11.07.2018 | 12 Minuten  

Ab dem 1. Januar 2019 dürfen Diesel-Fahrzeuge, die höchstens die Euro-Abgasnorm 4 erfüllen, nicht mehr in die Umweltzone von Stuttgart einfahren. Nach aktuellen Schätzungen könnte das in der Stadt und in der umliegenden Region bis zu 200.000 Gefährte betreffen. Mit dieser Meldung erreicht die Tragödie um die heute lebensfeindlichen Ausmaße des Straßenverkehrs einen weiteren kleinen, aber dramatischen Höhepunkt: In Hamburg fielen bislang lediglich zwei kurze Straßenabschnitte der autofeindlichen Maßnahme zum Opfer.

Dat jeht in eenen Kopp alleene jar nich rin!

Mit 23 Stunden Totzeit pro Tag, jährlich bis zu 51 Stunden im Stau und 41 Stunden auf Parkplatzsuche, mit einer Besetzung von im Durchschnitt nur 1,5 Personen je Fahrt, bei rund 2.500 Euro individuellen und rund 2.100 Euro gemeinschaftlichen laufenden Jahreskosten je Fahrzeug sowie angesichts von mehr als fünf Menschen pro Tag, die von einem Pkw getötet werden, muss das Automobil als das ineffizienteste und gefährlichste Gerät gelten, das der moderne Mensch ersonnen hat. Zusätzlich schließt es breite Bevölkerungsgruppen von der Nutzung aus und isoliert seine Insassen während der Fahrt fast vollständig vom umgebenden verkehrssozialen Geschehen. Für jeden Kilometer, den ein Kraftfahrzeug zurücklegt, zahlt die Gemeinschaft rund 15 Cent — völlig unabhängig davon, ob ihr diese Fahrt nutzt oder nicht. Seit 1999 stieg der Aufwand im Motorisierten Individualverkehr um rund 100 Milliarden Kilometer. Der deutsche Steuerzahler löhnt für die Bewegung der rund 46 Millionen hier zugelassenen privaten Kraftfahrzeuge mittlerweile jährlich rund 120 Milliarden Euro.

Das alles ist bekannt und darf niemanden überraschen. Ebenso wenig kann der Ton der öffentlichen Debatten verblüffen. Um notwendige Zwangsmaßnahmen entbrennen dialektische Schlachten, der Alltag bildet sich längst nur noch als Un-Zustand ab, der immer dieselben, falschen Sündenböcke beschwört. Eine Mélange aus Unrecht und Eitelkeit, die sich mit dem trügerischen Mantel einer vermeintlichen gesellschaftlichen Balance tarnt. Eben ein Deutschland, »in dem wir gut und gerne leben.« Wehe dem, der Veränderungen plant, und zwar auf Kosten der Überprivilegierten. Dann bricht sich ein Sturm der Entrüstung Bahn, vor dem sich ausnahmslos alle sonst scharfzüngigen Wortführer schon in vorauseilendem Gehorsam lieber wegducken. Denn über unsere selbstsüchtige Kultur des Neids und der Eifersucht brach längst die Herrschaft der Beleidigten an. Sie klammern sich an ein Grundrecht, das die Umstände ihnen de facto sogar zubilligen: das Grundrecht auf Verschwendung.

Die Botschaft von weniger wäre Verrat

Es rührte an des Wohlständlers ur-eigener Identität, wenn er nicht mehr selbst entscheiden dürfte, wofür er Ressourcen im Übermaß verpuffen lässt und wessen Leben er durch sein selbstsüchtiges Handeln regelmäßig schädigt. Immerhin verbrieft schon das Grundgesetz in Artikel 2 die »freie Entfaltung der Persönlichkeit.« Die autozentrierte Stadt- und Verkehrsplanung der vergangenen Jahrzehnte hat ein Mobilitätsregime — also die unanfechtbare Vorherrschaft eines einzelnen Verkehrsmittels und damit das diametrale Gegenteil einer Mobilitätskultur — hervorgebracht, das solche Gedanken der zügellosen Dekadenz nicht auch nur eine Sekunde lang in die Gefahr geraten lässt, auf Widerspruch zu stoßen. Eine sich selbst so bezeichnende ›Online-Befragung zur Radinfrastruktur der Zukunft‹ titelt aktuell beispielsweise mit der Handskizze eines marginalisierten Radweges neben einer Hauptverkehrsstraße, auf der als Höchstgeschwindigkeit 50 km/h erlaubt sind. Emanzipiertes Denken? Fehlanzeige. Die Radverkehrsförderung macht sich immer wieder selbst zum servilen Wegbereiter der Fortdauer des Regimes. Nicht auszudenken, was geschähe, wenn sich die willfährigen Handlanger als Gegner des Regimes erhöben. Man will schließlich nicht seinen Job und auch nicht seine Abonnements auf öffentliche Aufträge riskieren.

Lästig nur, dass das Grundgesetz im genannten Artikel, sogar im selben Satz, mehr Zeichen darauf verwendet, den vermeintlichen Freibrief wieder einzuschränken. Das Recht auf Entfaltung gilt nur, soweit »nicht die Rechte anderer verletzt« werden. Diese ärgerliche Fessel versuchten Gegner des Nichtraucherschutzgesetzes schon seinerzeit abzustreifen, indem sie das schützenswerte Gut, nämlich die saubere Luft, ganz einfach aus dem Spiel nahmen und das Gesetz als Angriff auf ihre eigenen Freiheiten und als Verletzung ihrer Persönlichkeiten inszenierten. In Bezug auf das Automobil lassen sich aber keinerlei physische und psychische Abhängigkeiten nachweisen, die solches krampfhafte Beharren zumindest medizinisch erklären könnten. Die Aufrechterhaltung des automobilen Regimes gleicht daher keinem Selbstläufer, sondern erfordert stattdessen jährlich einen immensen Aufwand. Eine Implosion, also die Rückkehr zu einem natürlichen Gleichgewicht, würde bei weitem weniger Schaden übrig lassen als Nutzen. Endlich würden die Menschen gewinnen und nicht nur die Geldbeutel kleiner Eliten. Unser automobiler Alltag führt aktuell zur Verkümmerung jüngerer Generationen und ökonomisch benachteiligter Haushalte, zum Ruin der Gesundheit unserer Nachkommen und zum täglich hundertfachen Totschlag durch Verkehrsunfälle, Lärm, Abgase und Feinstaub. Im Namen unseres Grundrechts auf Verschwendung, das es gar nicht gibt, verletzen wir fortdauernd das ganz reale Grundgesetz, Artikel 2, Satz 2: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Ungestraft. Doch diesen Sachverhalt beim Namen zu nennen, öffnet keine Türen und verschafft nicht einmal Gehör. Denn für wenige Schmarotzer steht viel auf dem Spiel — aber sie haben den gesamten Apparat im Griff. Ihr riesiger Hofstaat aus unreifen, unsicheren und beschränkten Persönlichkeiten verkaufte einst seine geistige Freiheit für ein bisschen Teilhabe am System und ist nun nicht mehr fähig, an andere Botschaften als die verordneten zu glauben.

Lust auf Smartness

Niemand schreibt, spricht und singt von den unermesslichen Chancen, die uns die bevorstehende Zeit eröffnen wird. Gerade für die ach so großen Experten der Kommunikation böte sich hier doch endlich eine unvergleichliche Gelegenheit, tatsächlich einmal zu brillieren und Geschichte zu schreiben, statt immerzu die ewig gleichen, sozial erwünschten und gleichzeitig absolut harmlosen Plattitüden vom Klimaschutz durch den Radverkehr unglaubwürdig herunterzubeten: Wer nimmt die Herausforderung an, eine neue Lust auf Smartness zu wecken? Die Frage der Stunde wird nicht sein, wie wir die erdrückende Zerstörungskraft unserer Verschwendung dauerhaft ausblenden können, um an unserem unrechten Grundrecht festzuhalten. Die Frage wird sich anders stellen: Wie können wir Sparsamkeit feiern? Wie leiten wir die Erkenntnis ein, dass nicht derjenige maximal smart ist, der alles hat oder alles bekommen kann, sondern derjenige, der weiß, was ihn glücklich macht — und genau das erfolgreich beschafft? Glücksforscher gehen schon seit längerem davon aus, dass Zufriedenheit nicht ins Unermessliche steigen kann, sondern sich ab einer bestimmten Höhe vom materiellen Besitz entkoppelt. Es geht nicht darum, wie viel wir besitzen, sondern wie viel wir genießen. Wer also baut aus der Genügsamkeit, einst einer umjubelten Tugend, endlich wieder kraftvolle Slogans oder gar Kampagnen? Wer reißt andere Menschen mit und entfacht eine Bewegung? Das Fahrrad, sollte es jemals dazu kommen, würde darin mit Sicherheit eine tragende Rolle spielen.