Die Jagd nach Reichtum in kürzester Zeit hat auch in der Marktwirtschaft ihren Platz. Sie darf sie aber nicht ersetzen.
09.01.2019 | 6 Minuten
Der Hype um die Kryptowährung Bitcoin erweist sich mittlerweile nur noch als die Spitze des Eisbergs dessen, was der hiesigen, gar nicht mehr so sozialen Marktwirtschaft nun seit ungefähr einer Dekade ein ganz neues Tempo verleiht: die ungehemmte Spekulation. Ob wir persönlich ihr nun mit tropfendem Zahn oder mit fremdelndem Schaudern begegnen, liegt in unserem eigenen Ermessen. Insgesamt aber sollten wir als Gemeinschaft uns die ernste Frage stellen, ob uns der schnelle Zugewinn von Kapital allein durch den massiven Einsatz desselben wirklich voranbringt.
Auf Kosten der Solidarität
Wer den massenhaften Auf- und Niedergang ökonomisch zunächst erfolgreicher Unternehmen, aber auch die mittlerweile wahnhafte Jagd nach einer Milliardenbewertung als ›Einhorn‹ nüchtern beobachtet, den muss der Eindruck beschleichen, dass unser Wirtschaften augenblicklich weniger danach strebt, ein stabiles und insbesondere langlebiges Ökosystem herzustellen oder zu erhalten. Es scheint stattdessen einzig danach zu trachten, quasi als Durchlauferhitzer ganz wenige Menschen ganz unfassbar reich zu machen. Deren Trägerraketen, also die Konstrukte aus Strukturen, Prozessen und Beschäftigen, die ihnen überhaupt erst ermöglichten, den Erdorbit zu überwinden, schicken sie nach erfolgreichem Abschluss ihrer Selbstbereicherungsmission dann zum Verglühen zurück in die Atmosphäre.
Es wird sich niemals eine völlige oder auch nur annähernde ökonomische Gleichheit unter den Menschen einstellen. Fortschritt lebt auch von Ehrgeiz, Wettbewerb und gesundem Neid. Doch scheint die Umverteilung von unten nach oben an Schärfe derart zugenommen haben, dass sie bisweilen schwindelig macht. Das bedauerliche Problem: Indem wenige Menschen riesige Reichtümer anhäufen, gehen auf der anderen Seite ganz viele Menschen leer aus — oder erleiden sogar Schaden. Denn Spekulationen begnügen sich ja beileibe nicht nur mit den Technologie-Branchen. Wenn beispielsweise große Immobilien-Heuschrecken massenhaft Mietshäuser aufkaufen, um sie zu Spekulationsobjekten umzufunktionieren, wird auch für Normalverdiener die Mietluft ganz schnell dünn. Auch raumwirksame Geschäfte, wie etwa Online-Handel, Lieferdienste und die gewerbliche Personenbeförderung, zeitigen schon jetzt gemeinschaftliche Belastungen.
Kurzweilig, aber nicht tragfähig
Vor allem aber: Die Einhörner von heute könnten als verseuchte Kadaver von morgen die Flora und Fauna unserer Ökonomie künftig ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen. Wage niemand zu behaupten, wir hätten uns mit Stand heute von all den ›toxischen‹ Produkten der damaligen Immobilienblase vollständig erholt. Wer ein Geschäft aufzieht, um es möglichst profitabel an jemand anderen zu verkaufen, mag die Spielregeln des Turbo-Kapitalismus verstanden haben. Aber nicht die der belastbaren sozialen Marktwirtschaft. Wie bringen wir beispielsweise die rund 800.000 Beschäftigten der Automobilbranche unter, von denen ein Großteil auf absehbare Zeit seinen Job verlieren wird? Wie bewältigen wir den Pflegenotstand? Welches Arbeitszeitmodell taugt wirklich für die Zukunft, vor dem Hintergrund von demografischem Wandel und Digitalisierung? Auf solche Fragen können Einhörner keine Antworten liefern. Sie eignen sich höchstens für moderne Pferdewetten — als Zeitvertreib für pflichtvergessene Superreiche tolerabel; als Pfeiler einer Strategie, die dem wirtschaftlichen Ökosystem dauerhaft zu solider Balance verhelfen soll, wohl eher zerstörerisch. Denn Monokulturen lassen Potenziale ungenutzt liegen und beuten bestimmte Ressourcen übermäßig aus — und sie verringern die Resilienz. Kein gutes Rezept für eine Volkswirtschaft.