Menschen im Lebensumbruch eignen sich nicht als Zielgruppe; Menschen im Straßenverkehr dagegen schon.
20.03.2019 | 6 Minuten
Staatliches Mobilitätsmarketing macht es sich gerne einfach. Öffentliche Mittel sollen dort zum Einsatz kommen, wo sie die größte Wirkung entfalten können. Seit einiger Zeit meinen Entscheidungsträger, dafür hervorragend geeignete Zielobjekte ausgemacht zu haben: Menschen, die sich in Phasen des Lebensumbruchs befinden. Die Idee trat im Zusammenhang mit dem Konzept der Mobilitätsbiografie erstmals auf und kommt so simpel wie plausibel daher: Wenn die Lebensumstände von Menschen sich verändern, bietet das einen guten Anlass, auch ihre Mobilitätsgewohnheiten zu durchbrechen und sie für alternative Verkehrsangebote, etwa den Umweltverbund, zu gewinnen.
Reines Missverständnis?
Auch wenn der Autor selbst zugibt, dass »the focus of this paper is less on the effect of incentives for changing attitudes and, ultimately travel behaviour« (Seite 8), findet sein Gedanke spätestens seitdem muntere Anwendung, beispielsweise in der Begleitforschung zum Car Sharing:»Bei vormals autobesitzenden Personen fanden zunächst situative Veränderungen im persönlichen Lebenskontext statt, die zu einer generellen Auto-Aufgabebereitschaft führten, bevor das Car Sharing-Angebot wahrgenommen und geprüft wurde.« Das hat sich durch neuere Untersuchungen allerdings mittlerweile als Missverständnis herausgestellt: »Nur zehn Prozent verändern mit einem Lebensumbruch als Ursache auch ihr Entscheidungsverhalten und melden sich zum Carsharing an. […] Die Anmeldung erfolgte aufgrund eines akuten Autobedarfs und weniger aufgrund einer Veränderung im Lebensverlauf (Umbruchsituation).« (Seiten 214 bzw. 227) Mittlerweile lautet der Beipackzettel so:»Damit [Interventionen] erfolgreich sind, gibt es eine zentrale Voraussetzung: Die durch Maßnahmen geförderte Alternative muss für den Verkehrsteilnehmer attraktiv und alltagstauglich erscheinen! Ist dies nicht der Fall, führt die durch Maßnahmen neu ausgelöste Entscheidungssituation zu Ergebnissen, die dem bisherigen Verhalten entsprechen.« (Seite 113) Also: Keine Verhaltensänderung ohne Upgrade der Alternativen.
Aber auch ganz praktisch muss die Idee, Lebensumbrüche zu adressieren, sich einige Fragen gefallen lassen. Beginnen beispielsweise Umzügler mit ihrer Verkehrsmittelwahl wirklich bei null? Oder stehen Erwartungen an die künftige Verfügbarkeit der gewohnten Verkehrsmittel und die Wahl des neuen Wohnstandorts nicht vielmehr in einer Gewohnheiten perpetuierenden Wechselwirkung? Bieten die tendenziell sehr kurzen Phasen eines Lebensumbruchs — Denn welcher Mensch lebt gern für längere Zeit in Instabilität? — tatsächlich genügend Angriffsfläche für Reize, die aufgrund geringer Budgets ihrerseits meist schwerfällig und sehr allgemein bleiben, oder führen sie nicht eher zu vorprogrammierten Fehlschlägen? Weisen individuelle Biografien überhaupt genügend signifikante Veränderungen auf, um misslungene Verhaltensbeeinflussungen anschließend nicht für ganze Jahrzehnte betrauern zu müssen? Und schließlich: Wie unterscheiden sich Menschen im Umbruch von Menschen in stabilen Kontexten? Mit welchen spezifischen Touchpoints lassen sie sich wirkungsvoll erreichen, ohne Streuverluste?
Das Hier und Jetzt als Touchpoint
Auf den Verkehrsflächen spielt sich das reale Verkehrsgeschehen ab. Die konkrete Situation selbst bietet deshalb die allerbeste Gelegenheit, Menschen, die daran teilhaben, auch wirklich zu erreichen. Das mag sich in Präsentationen nicht so schillernd darstellen lassen und es mag auch für die schlaue Rede nicht viel Futter bieten; allein, das für vergeistigte Zielgruppenanalysen hinausgeworfene Geld ließe sich, zumindest im staatlichen Mobilitätsmarketing, mit deutlich größerer Wirkung einsetzen — und zwar auf der Straße.