Gefangen im Gruselkabinett

Symbole des mentalen Stillstands bremsen die Aneignung der Zukunft. Zeit, sie abzuschaffen.

  10.09.2019 | 7 Minuten  

Internationale Abhängigkeitsausstellung, Internationale Ausbeutungsausstellung, Internationale Antiquitätenausstellung — Es hilft wahrlich niemandem weiter, wenn führende Tageszeitungen kurz vor dem Start der diesjährigen IFA die Vorzüge des Automobils lobpreisen und daraus dessen gesamtwirtschaftliche Relevanz ableiten; ganz so, als wollten sie sich selbst wenigstens einen Hauch Legitimation zufächern, über ein Ereignis zu berichten, das in spätestens fünf Jahren der Vergessenheit anheim fallen dürfte. Denn ganz ohne Ideologie: Erstens wittern selbst einstige Partyhengste Ungemach und bleiben der Sause fern, die sich recht schnell zur Blamage auswachsen könnte. Übrigens nicht erst in diesem Jahr: Schon 2017 machte das Ereignis eher negative Schlagzeilen. Doch was da in Frankfurt getrieben wird, gleicht zweitens eben nicht den für die Allgemeinheit doch eher harmlosen Entgleisungen unreifer Teenager im Pulk. Stattdessen stellt geronnene Selbstgefälligkeit sich zur Schau, im hysterischen Licht von Wertvorstellungen, die kaum jemand mehr teilt. Die Zeche aber zahlen wir alle.

A wie asozial

Dass die Automobilindustrie mehr als 800.000 Menschen in Lohn und Brot hielte, zählt als Argument nicht wirklich viel. Denn es sind Zweifel angebracht, ob der Arbeitsmarkteffekt sich tatsächlich in dieser Größenordnung bewegt. Darüber hinaus kann Arbeitsplätze nur der langfristig sichern, der seine Geschäftsmodelle auf Zukunftsfähigkeit bügelt. Davon aber lässt sich in der Automobilindustrie keine Spur erkennen. Stattdessen funktioniert ihre PR-Maschine wie geschmiert: Sollte es zum Stellenabbau kommen, wird vom ›Wegfall‹ wie von einer Naturkatastrophe zu lesen sein, an der zumindest die Konzernlenker*innen aber nun überhaupt keine Schuld tragen, sondern höchstens die Umstände, die miese Konsumstimmung, schlechte Politik usw. Deutschland, so scheint es, kann nicht nur keine Großprojekte, sondern hat auch das smarte und agile Management verlernt — jedenfalls dort, wo es am dringendsten gebraucht würde. Dass die Automobilindustrie immerhin 17,5 Prozent der deutschen Exporte verantwortet, zeigt nicht etwa den genialen Markterfolg der Exportschlager, sondern die Ideenlosigkeit aller übrigen Exporteure. Und die gravierende Verwundbarkeit einer ganzen Volkswirtschaft, die sich in die bedingungslose Abhängigkeit von einem einzigen Zweig begeben hat. Doch Abhängigkeit begünstigt Ausbeutung. Deshalb nimmt es sich nachgerade zynisch aus, mit den hohen Löhnen in der Automobilindustrie zu argumentieren — nicht nur, weil das sämtliche Berufe im Dienst an der Menschenwürde zusätzlich abwertet, sondern weil dem individuellen Wohlstand ein volkswirtschaftlicher Schaden von rund 128 Milliarden Euro pro Jahr gegenübersteht. Das entspricht ungefähr einem Drittel der Ausgaben, die die Bundesrepublik Deutschland tätigt. Doch dieser Betrag taucht in keinem Kompensationsportal der Welt auf.

Z wie Zukunft

Blechlawinen fluten Stadt und Land, Regionen ringen um Lebensqualität, Menschenmengen in den Größenordnungen einer Kleinstadt verrecken jedes Jahr. Doch die Priester des Gestern feiern weiter ihre schaurigen Messen. Das ärgerte nicht halb so stark, redeten Amts- und Würdenträger ihnen nicht weiterhin nach dem Mund. Selbstverständlich können Ministerpräsidenten, die im Aufsichtsrat eines Autokonzerns sitzen, sich niemals gänzlich des Eindrucks von Erpressbarkeit entledigen. Doch das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Unversehrtheit dem Fortbestand der eigenen Abhängigkeit zu opfern»Es kommt insbesondere darauf an, einen wirksamen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr zu leisten, anstatt Verstöße massenhaft und unreflektiert gegenüber ihrer Bedeutung für die Verkehrssicherheit zu ahnden.« —, weist durchaus eine ganz neue Qualität von Zynismus auf.

Die IAA als Veranstaltung braucht sicherlich keine Sterbehilfe, sie wird sich selbst erledigen. Allerdings benötigen wir an ihrer statt ganz dringend vielfältige Signale, die in die Zukunft weisen — und zwar nicht als Fortschreibung des Status Quo mit vereinzelt anderen Bauteilen, sondern als Modell des Lebens, Wirtschaftens und Gestaltens, das dem Wachstum des Menschen Vorrang einräumt vor dem Wachstum der Märkte. Denn letzteres folgt allein aus ersterem. Auf der IAA zelebrieren sie die ewige Stagnation. Lasst uns unseren gesunden Menschenverstand lieber in den wahren Fortschritt investieren!