Ein Beitrag auf Spiegel Online will den Eindruck erwecken, der Bevölkerung in Deutschland gingen die Beschränkungen des öffentlichen Lebens zur Eindämmung der Corona-Epidemie zunehmend auf die Nerven. Die Daten, die das belegen sollen, lassen eine solche Schlussfolgerung aber gar nicht zu.
In der Ferienfalle
Eine Hälfte der Argumentation besteht nämlich aus einer scheinbar wieder ansteigenden Kurve von Mobilitätsaktivitäten. Abgesehen davon, dass das betreffende Diagramm überhaupt keinen Hinweis darauf gibt, welcher Mobilitätsparameter den Messungen zugrunde liegt — Zahl der Wege, Entfernungen, Häufigkeit der Einwahl in unterschiedlichen Funkzellen oder andere —, beginnt der neue Wachstumstrend ganz offensichtlich auch um den 5. April 2020, einem Sonntag. Sollte die Tatsache, dass es sich dabei genau um den Wochenend-Tag vor Beginn der Osterferien in acht Bundesländern handelt, nämlich in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Thüringen, nicht schon herausgerechnet sein, erwiese die Behauptung zunehmender Corona-Missachtung sich anhand dieser Daten als grober Irrtum. Auch in normalen Jahren sorgt das Wochenende vor Ostern regelmäßig für Schlagzeilen, und zwar wegen der Stau-Rekorde.
Zur Einordnung: In den genannten Bundesländern leben rund 70 Prozent aller Einwohner*innen der Bundesrepublik. Dass vielen Menschen, die seit Ausbruch der Corona-Epidemie im Home Office gearbeitet haben, trotz allem ihren, vermutlich schon vor dem Jahreswechsel eingereichten, Osterurlaub antreten und mehr Zeit draußen verbringen, ob nun allein oder gemeinsam mit ihren Kindern, liegt wohl auf der Hand. Echte Erkenntnis brächte die Mobilitätsstatistik erst, wenn zur reinen Zahl von Bewegungen auch weitere Daten zu den durchschnittlichen Entfernungen oder beispielsweise zu den räumlichen wie auch zeitlichen Bewegungsmustern hinzuträten.
Denn sie wissen nicht, was sie wollen
Nicht weniger halbseiden nimmt sich der Befund aus, die Zustimmung zu den Corona-Einschränkungen sei um 40 Prozent gesunken. Die Erhebung selbst weist verschiedene methodische Schwächen auf, die vermutlich noch deutlicher zutage träten, stünde der eingesetzte Fragebogen öffentlich zur Verfügung: Die Größe der Stichprobe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Randomisierungsverfahren bei der Ziehung nicht offenliegt. Eine Analyse der Befragungsumstände (Wie lange dauerte das Interview) oder des Rücklaufs (Wie viele Befragte brachen ab?) findet nicht statt. Diverse Antwortskalen mit einer ungeraden Zahl an Antwortmöglichkeiten provozieren die Tendenz zur Mitte, sozial erwünschte Antworten lassen sich bei einer Vielzahl der Fragen erwarten. Die Reihenfolge der Fragen leistet einem Priming-Effekt Vorschub. Kurz: Es fehlt eine Betrachtung von Fehlern und Verzerrungen. Über die Güte der eingesetzten Fragen und des Instruments als Ganzem wird keine Aussage getroffen.
Welche Aussagekraft wohnt nun der vermeintlich sinkenden Zustimmung inne? Grundsätzlich leidet die Forschung über die Einstellungen des Menschen selbst an diversen Mängeln, das haben sogar ihre eigenen Vertreter deutlich gemacht: »Vor allem durch die […] Konzentration auf eine praktische Anwendung und Verwertung von Studien zur Verhaltensvorhersage aus Einstellungen ist die Einstellungs-Verhaltens-Forschung weithin durch bestimmte ›Sets‹, durch mangelnde Flexibilität und oft methodische Lässigkeit gekennzeichnet; solche Einseitigkeiten und Lässigkeiten können sich einstellen, wenn man unter dem der Grundlagenforschung abträglichen Druck handelt, handliche Ergebnisse zu erzielen, also z.B. Konsumentenverhalten oder Wählerverhalten vorherzusagen.« In der Tat muss die persönliche Einstellung sogar als Resultante gelten, nämlich als abhängig von demjenigen Verhalten, das der Mensch tatsächlich an sich beobachtet. Bereits Ende der 1980er Jahre stießen amerikanische Forscher auf den verblüffenden Sachverhalt, dass allein das rationale Nachdenken über die Gründe für eine Handlung die Einstellung dazu selbst schlicht und ergreifend verändert. »The process by which thinking about reasons causes attitude change, we argue, is as follows: Because people do not always have complete access to why they feel the way they do about an attitude object, they search the cognitive landscape for reasons that are plausible, accessible, and easily verbalizable. The reasons that meet these conditions, however, may not accurately reflect a person’s prior attitude.« Sei das der Fall, so führen die Forscher weiter aus, veränderten die Menschen nachträglich ihre Einstellung.
Viele Irrtümer ergeben trotzdem keine Wahrheit
Zwei hinkende Gnome nun zusammenzuzählen, als einen gefährlichen Riesen zu interpretieren und allein schon deshalb ein doppeltes Maß an Überzeugtheit aufzubieten, weil das Gesamtbild kohärent erscheint, mag in der Politikberatung üblich sein. Als Wissenschaft darf das aber nicht durchkommen. Die präsentierten Daten lassen mindestens eine weitere, stark abweichende Deutung zu: Viele Menschen wollen ihren Osterurlaub im schönen Wetter genießen, deshalb zieht es sie häufiger nach draußen. Das färbt freilich auf ihre Haltung zu den Corona-Einschränkungen ab, weil die natürlich umso mehr stören, je stärker sie dem Urlaub in die Quere kommen. Um diese Hypothese zu überprüfen, könnten beispielsweise Wetterdaten und betriebliche Urlaubsstatistiken zusätzliches Licht auf die wahren Zusammenhänge werfen. Auch die Mobilitätsdaten geben möglicherweise noch bessere Erkenntnisse her. Die zu suchen und damit nicht schon bei der ersten ›Entdeckung‹ aufzuhören, könnte sich dann wieder wissenschaftliches Arbeiten nennen.
Ob die Menschen die Corona-Regeln häufiger missachten als vorher und ob sie grundsätzlich wachsenden Verdruss gegen die Anti-Epidemie-Maßnahmen hegen, geht aus den Befunden allerdings nicht wirklich hervor. Schon das Instrument Befragung allein muss als das schlechtest mögliche gelten und seinen Ergebnissen gehört regelmäßig ein doppeltes Maß an Skepsis entgegengebracht. Das hängt nicht nur mit den vielen methodischen Fehlerquellen zusammen, die unterwegs lauern und Daten gehörig verfälschen können. Das liegt auch an der wenig verlässlichen Datenquelle selbst: »Der Mensch interpretiert alles weg, was ihm in die Quere kommt,« schreibt beispielsweise der Neuropsychologe Lutz Jäncke in seinem Buch ›Ist das Hirn vernünftig‹? Das gilt gleichermaßen für die Befragten wie für die Befragenden. Letztere sollten das aber, anstatt abenteuerliche Behauptungen und unangemessene Erziehungstipps in die Welt zu setzen, aufgrund ihrer Fachkunde eigentlich im Griff behalten können.
Update, 13.04.2020, 12 Uhr: Statt noch einmal über die Güte der eigenen Befunde zu reflektieren, liefert ein weiterer Autor auf Spiegel Online jetzt sogar Karten zum ›unerzogenen‹ und ›rücksichtslosen‹ Mobilitätszuwachs der Deutschen. Immerhin: Jetzt wissen wir, dass der als Statistik getarnten Moralpredigt lediglich die Häufigkeit von Funkzellenwechseln zugrunde liegt. Die werden, spätestens mit Auslaufen der Osterferien und/oder mit dem Eintritt von Wetterverschlechterungen, vermutlich wieder abnehmen — die Schmierstifte aber werden behaupten, ihr Appell hätte Wirkung gezeigt … Noch eine Randbemerkung: Die Kartendarstellung erweist sich ebenfalls als Fehlschlag. Denn sie erweckt den Eindruck, im März sei mobilitätsmäßig deutlich mehr los gewesen als Anfang April. Dass die blassen Farben sich eigentlich dem roten Ende der Skala nähern, lässt sich nicht so recht erkennen.