Nichts gelernt. Rein gar nichts.

Wer eine Pandemie bekämpfen will, sollte deren Verhalten verstehen — oder sich zumindest darum bemühen.

  19.11.2020 | 6 Minuten  

Der November-Teil-Lockdown erlebt seine dritte Woche, doch die Infektionszahlen schwanken weiterhin stark — ein solider Abwärtstrend bleibt jedenfalls aus. Da stellt sich ganz zwangsläufig die Frage, welche Informationsbausteine uns bzw. den Entscheidungsträger*innen noch fehlen, um die Eindämmungsmaßnahmen nachzuschärfen. Es zeigt sich: Noch immer mangelt es an fast allen wesentlichen Daten.

Mit Kanonen auf Spatzen

»Nur etwa ein Fünftel der insgesamt gemeldeten COVID-19 Fälle kann einem Ausbruch zugeordnet werden und damit fehlen für eine Vielzahl der Fälle Informationen zur Infektionsquelle.«, stellte das Robert-Koch-Institut vor zwei Tagen ganz nüchtern fest. Das gebiert in der Folge viele weitere Kenntnislücken. So weist ein Überblicks-Beitrag des Wissenschaftsmagazins ›Spektrum‹ von Ende Oktober darauf hin, dass Schulen und Verkehrsmittel als Infektionsherde unterrepräsentiert sein könnten. Einer der Gründe: »In den aktuellen Daten des RKI kommen kleinere Ausbrüche mit weniger als fünf Infizierten nicht vor. Und größere Ausbrüche spielen wie in den Daten aus dem Bulletin vom September kaum eine Rolle.« Am Schluss des Beitrags resigniert der Leiter des Gesundheitsamts Neukölln, Nicolai Savaskan, schließlich: »Gegen Superspreader helfe nur eines: wenn alle ihre Kontakte deutlich reduzieren. Denn damit fallen auch die wichtigsten Infektionsumfelder weg.«

Die vergangenen zweieinhalb Lockdown-Wochen widerlegen diese Behauptung eindrücklich. Neben den Mängeln in der Datenerfassung und der irrtümlichen Konzentration auf zwar mediengängige, scheinbar aber weniger relevante Superspreading-Events dürften auch weitere Schwächen im Pandemie-Monitoring daran einen nennenswerten Anteil haben: Der Meldeverzug beispielsweise sorgt dafür, dass Infektionsfälle längst weiteres Unheil verbreiten konnten, bevor sie erkannt werden: »Wenn wir einen Superspreader identifiziert haben, ist der längst nicht mehr infektiös.« Auch hier wieder: Es darf eben nicht nur um Superspreader gehen. Das legt den Finger auf einen zweiten, extrem wichtigen neuralgischen Punkt: Die Virusausbreitung lässt sich nur unzureichend allein anhand des Merkmals tatsächliche Infektionsfälle erfassen, denn spätestens seit der jüngsten Studie über Kinder können wir sicher sein, dass Überträger bei weitem nicht immer auch selbst erkranken oder erkannt werden.

Nichtstun hilft auch nicht weiter

Die Faulenzer-Spots der Bundesregierung, die erstens mit schwierigen Vergleichen irritieren und zweitens die Diskussion wieder einmal vereinfachen, indem sie den Scheinwerfer exklusiv auf — vermeintlich unbelehrbar partysüchtige — junge Menschen richten, geben drittens auch noch den falschen Ratschlag: Zuhause bleiben ja, aber gar nichts zu tun, trägt ebenfalls kein bisschen zum Erkenntnisgewinn über die Pandemie bei. Nur ein lückenloses Bild über die Ansteckungswege kann die aktuell noch immer vielfach widersprüchliche Faktenlage Stück für Stück zu klären helfen. Viel weiter als nutzlose PR-Spots würde uns eine Grassroot-Bewegung bringen, die das individuelle Kontakt-Profiling als soziale Praxis etabliert. Denn mit keinen Daten kann auch kein Algorithmus irgend etwas errechnen. Doch auch die Wissenschaft könnte schon ohne Big Data weitere Hinweise finden, etwa indem sie sich in der guten alten Deduktion versucht. Dass Corona-Ansteckungen sich vor allem in Wohnumfelder verlagern, überrascht diejenigen Menschen keineswegs, die schon einmal die Studie zur Zeitverwendung gelesen haben oder denen Variablen wie Haushaltsgröße etc. nicht fremd sind. Vor allem aber darf ein Staat, der sein Handeln mit dem Schutz des Gesundheitssystems begründet, nicht gleichzeitig dessen Ressourcen erodieren lassen. Eine lückenlose Nachverfolgung von Kontakten, oder zumindest die nachträgliche, aber vollständige Aufklärung der Infektionsumstände sind das Gebot der Stunde. Jeder Fall zählt, um Corona endlich in den Griff zu bekommen.