Eine Frage der Gerechtigkeit

Das Regime des Kraftverkehrs hält unnötig lange an alten Zeiten fest. Eine gesunde Entwicklung müsste nach einem Mobitop für alle streben.

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Komplexe, aber erfolgreiche Ökosysteme zeichnen sich dadurch aus, dass die einzelnen Einheiten oder Gruppen von Einheiten ihre Ansprüche an gemeinschaftlich verfügbaren Ressourcen — Raum, Energie, Partnerschaften — stetig neu untereinander aushandeln. Die einzelnen Populationen unterliegen der permanenten Veränderung, deshalb müssten starre Zuweisungen automatisch zu einem Kollaps des Systems führen. Dem Prinzip nach gilt das auch für den Straßenverkehr, allein schon deshalb, weil Mengen und Ströme von Verkehrsteilnehmenden sich über den Tages-, Wochen- und Jahresverlauf verändern. Abseits der dynamischen Verkehrssteuerung innerhalb von Teilsystemen — etwa die dynamischen Ampelschaltungen im MIV und ÖPNV oder die situationsabhängige Sperrung oder Freigabe von Fahrspuren auf klassifizierten Straßen — fehlt es dem System Straßenverkehr allerdings an grundlegender Dynamik. Das sorgt täglich für quasi-katastrophale Zustände.

Ohne Kenntnis und Fantasie

Der deutsche Straßenverkehr hat das Aushandeln weitgehend verlernt. Schon längst herrscht der Geist des Ausschlusses, der Abgrenzung voneinander. Scheinbar ›moderne‹ Verkehrspolitik besteht hierzulande darin, die Biotope für die einzelnen Verkehrsmittel so zu befestigen, dass deren — zwar theoretisch erwünschte, praktisch aber nicht durchsetzbare — Unberührtheit möglichst wenige Verletzungen erleidet. Eigene, in sich geschlossene Netze für den Fuß-, den Rad- und den öffentlichen Personenverkehr sollen deren Durchkommen im chaotischen, nervigen und im höchsten Maße schädigenden Verkehrsalltag sicherstellen, unbedrängt vom großen Prädator namens Automobil. Das wiederum verleibt sich bei jeder Gelegenheit, etwa durch Schwarzparken, fremde Flächen ein, was eigentlich nur deshalb zur groben Unerhörtheit taugt, weil die Flächen zwar als fremd deklariert sind, gegen den Übergriff aber keine Verteidigung erfahren, beispielsweise durch eine konsequente Verkehrsüberwachung. Das scheinbar so hoch verregelte Verkehrsgeschehen auf deutschen Straßen folgt, bei Lichte betrachtet, längst der Anarchie — bzw. dem Entwicklungsstadium danach.

Die Synergetik, als Forschungsgebiet der Physik, liefert seit vielen Jahren immer mehr Nachweise dafür, dass solche anarchischen Zustände beinahe zwingend einen Übergang durchlaufen. Dem Durcheinander folgt die Selbstorganisation, und zwar meist — so auch im Straßenverkehr — nach den Regeln des ›Ordners‹: Eines der miteinander konkurrierenden Elemente setzt sich durch und ›versklavt‹, so die Original-Bezeichnung in der Synergetik, alle anderen Elemente. Wenn wir nun in Rechnung stellen, dass eine radfahrende Person mit Tempo 20 lediglich über 1,6 Prozent der Bewegungsenergie eines VW Up! mit Tempo 50 verfügt, ein zufußgehendes Kind sogar nur über 0,01 Prozent, ergibt sich von selbst, welches Verkehrsmittel im System Straßenverkehr als Ordner auftritt und alle anderen versklavt. Die Anarchie der Straße entpuppt sich als Regime, und zwar als das Schreckensregime des Kraftverkehrs.

Statt Exklusion und Machterhalt

Die Antwort der hiesigen Verkehrspolitik darauf fällt recht fantasielos aus. Wer Protected Bike Lanes, abgetrennte Radwege oder Nebennetze für den Radverkehr und separate Busspuren fordert, folgt zwar, ob wissentlich oder nicht, einer Empfehlung der Synergetik selbst: »Spezialisiere Dich, schaffe Dir eine ökologische Nische«. Die gilt allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen: »Eine ökologische Nische ist gewissermaßen ein Reservat, eine Schutzzone, in der eine bestimmte Spezies für sich allein ungehindert leben kann.«, schreibt Hermann Haken. Das geht beim knappen Gut Verkehrsfläche selbstverständlich nicht auf. Mehr noch: Mobilität, also das Potenzial zur selbstbestimmten Fortbewegung, soll Erreichbarkeit und keine Hindernislosigkeit herstellen. Auch Zufußgehende und Radfahrende wollen Kreuzungen queren oder ohne große Störungen Hauseingänge benutzen können. Wenn wir die Straße darüber hinaus nicht nur einseitig als Transport-Infrastruktur definieren, sondern als umfassenden sozialen Raum mit vielerlei Funktionen, müssen wir anerkennen, dass die Längsrichtung krankhaftes Übergewicht bekommen hat und die Querrichtung einen einsamen Tod stirbt.

Wer das Prinzip der Separierung im Straßenverkehr vertritt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er damit zuallererst den König schützt und dessen Macht bewahrt. Das meint: Schwächere Verkehrsteilnehmende auf separate Anlagen zu verbannen und damit letztlich auszuschließen, erhöht die Leichtigkeit für den Kraftverkehr und stärkt damit dessen Attraktivität. Forderungen nach einer Gleichberechtigung der Verkehrsmittel nehmen sich vor diesem Hintergrund nicht nur maximal unrealistisch, sondern geradezu zynisch aus. Die Lösung kann eigentlich nur lauten, die Übermacht des Ordners einzudämmen — etwa durch eine flächendeckende Geschwindigkeitsbegrenzung auf 20 Kilometer pro Stunde innerorts und eine drakonische Ahndung von Schwarzparken — und das System ansonsten der Selbstorganisation zu überlassen. Das Mobitop-Modell bietet eine umfangreiche Analyse der verkehrlichen und städtebaulichen Folgen dieser Veränderung. Es wird höchste Zeit, zu solchen grundlegenden Maßnahmen zu greifen; nicht nur um unserer Selbst Willen, sondern ganz besonders im Interesse der nachfolgenden Generationen.