Am liebsten weit entfernt

Sämtliche Mobilitätstrends wollen uns Glauben machen, sie sorgten für größere Beweglichkeit. Stattdessen sorgen sie nur für wachsende Mobilitätskosten.

  19.05.2021 | 10 Minuten  

Der Nationale Radverkehrsplan 3.0 will erreichen, dass jede Fahrradfahrt im Durchschnitt nicht mehr 3,7, sondern sechs Kilometer zurücklegt. Steigt damit die Mobilität der Menschen? Wohl kaum. Denn die definiert sich als das Potenzial, eine Ortsveränderung durchzuführen. Wer nun von A nach B gelangen möchte, verfügt ganz logisch dann über ein größeres Potenzial, wenn beide möglichst nahe beieinander liegen. Eine größere Distanz erzeugt lediglich höhere Raumüberwindungskosten — und mindert damit das Potenzial für die Ortsveränderung.

Leistung ohne Nutzen

Die Physik definiert Leistung als die Menge an umgesetzter Energie oder auch an verrichteter Arbeit pro Zeiteinheit. Es handelt sich also um eine Verhältnisgröße. Davon scheinen Verkehrsexpert_innen nichts zu ahnen. Denn entweder verstehen sie die bloße Menge an Kilometern, die ein Fahrzeug zurückgelegt hat, als ›Fahrleistung‹ (in Kilometern), oder sie bezeichnen das Produkt aus der durch ein Fahrzeug zurückgelegten Distanz und der vom Fahrzeug beförderten Zahl an Menschen als ›Verkehrs- oder Beförderungsleistung‹ (in Personenkilometern). Keiner der beiden Fälle misst die umgesetzte Energie oder die verrichtete Arbeit, keiner der beiden Fälle bezieht die Menge auf eine Zeiteinheit.

Nicht, dass in der Fortbewegung gar keine Energie umgesetzt würde. Eine Stunde lang autozufahren, kostet einen Menschen mit einer Masse von 70 Kilogramm im Durchschnitt immerhin 105 Kilokalorien. Eine Stunde zu gehen, kostet schon 260 Kilokalorien, eine Stunde radzufahren sogar 420 Kilokalorien. Wer sich aus eigener Kraft fortbewegt, leistet also mehr. Wer andere als die eigene Körperenergie einsetzt, erzeugt nach physikalischer Definition zwar ebenfalls Leistung — aber er verschwendet diese gleichzeitig in unverhältnismäßig hohem Maße. Selbstverständlich trägt ein Kraftfahrzeug seine Insassen mehrere Hundert Kilometer weit. Doch es verrichtet nicht nur die Arbeit, um im Schnitt anderthalb Personen mit ihrem Körpergewicht und höchstens noch ihrem Gepäck zu bewegen. Es wuchtet darüber hinaus noch die Masse von mehr als einer Tonne Blech, Gummi und ähnlichem durch die Gegend. Dafür verrichtet es, völlig sinnlos, ein Vielfaches der Arbeit.

Das Geschäft mit der Faulheit

Auch das sparsamste Elektroauto setzt innerhalb einer Stunde — bei einer Distanz von 50 Kilometern in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h — rund acht Kilowatt um, das entspricht rund 6.900 Kilokalorien. Damit könnte ein Mensch rund 16 Stunden lang radfahren oder rund 26 lang Stunden gehen. Die autofahrende Person bietet selbst aber nur 105 Kalorien auf. Aus diesem Einspareffekt schlagen alle modernen Mobilitäts-Dienstleistungen Kapital. Letzten Endes verdienen sie ihr Geld nämlich nicht mit der Mobilität von Menschen, also damit, dass möglichst viele Menschen möglichst viele Ziele erreichen. Richtiges Cash bringt nur der möglichst hohe Energieverbrauch. Dafür müssen möglichst viele Menschen möglichst lange oder möglichst weit unterwegs sein.

Weil das Reisezeitbudget auch über Jahrzehnten hinweg nicht wesentlich von täglich 80 Minuten pro Person abweicht, fällt Option eins, also sich möglichst lange zu bewegen, weg. Es bleibt Option zwei: möglichst weit zu reisen. Das erweist sich als doppelt günstig, denn mit steigenden Entfernungen erhöht sich der Energieverbrauch ohnehin. Um in gegebener Zeit möglichst weite Wege zurückzulegen, muss aber auch die Geschwindigkeit steigen. Welch ein Glück: Der Energieverbrauch wächst sogar exponentiell zum Tempo. Ein lukrativeres Geschäftsmodell findet sich nur selten.

Falsch programmiert

Die Verkehrswende, die Mobilitätswende oder wie auch immer wir die Transformation nennen wollen, die wir benötigen, um unsere aktuellen Exzesse wieder in den Griff zu bekommen, müssen wir nicht weniger tun, als unser Denken neu zu programmieren: Mobilität hat nichts damit zu tun, wie weit wir kommen, sondern einzig damit, welche Möglichkeiten des Lebens sich uns durch möglichst wenig Fortbewegung bieten. Mobilität als Potenzial zu steigern, bedeutet nicht, Verbindungen zu möglichst weit entfernten Zielen herzustellen. Zwei Personen, die gemeinsam in einem Auto 500 Kilometer zurücklegen, verfügen über deutlich weniger Mobilität als zehn Personen, die ihre Ziele jeweils innerhalb von fünf Kilometern erreichen — was insgesamt nur 50 Kilometer ergäbe. Es geht also schlicht darum, Ziele wieder näher zusammenzurücken.

Das zahlt dann übrigens ganz automatisch auf den Klimaschutz ein. Denn, wie der Verkehrsingenieur Rudolf Pfleiderer betont: »Wer die Strukturentmischung als zentrales Element der Verkehrsverminderung fordert, und sagt, man müsse die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Einkaufen und so weiter wieder zusammen bringen, um den Verkehr zu verringern, verwechselt Ursache und Wirkung. Wer den Autoverkehr vermindern will, muss sich dafür einsetzen, dass langsamer gefahren wird. Dann würden auch die Funktionen wieder näher zusammen rücken.« Wenn aber das Tempo sinkt, vermindert sich auch der Energieverbrauch exponentiell — und damit der Schadstoffausstoß.

Tempo 20 innerorts

Laut der Studie ›Mobilität in Deutschland 2017‹ bleibt die Verteilung der Wegelängen über alle Haushaltseinkommensgruppen etwa gleich. Das bedeutet, dass Mobilitätskosten bei geringeren Einkommen einen höheren Anteil ausmachen und relativ gesehen weniger Geld übrig lassen für das Wohnen und weitere Ausgaben. Weite Wege und hohe Geschwindigkeiten benachteiligen also alle Menschen mit schlechteren ökonomischen Voraussetzungen. Ein Missstand, gegen den auch die Pendlerpauschale nichts ausrichtet, denn sie wirkt wiederum erst bei höheren Einkommen. Niedrigere Geschwindigkeiten stärken also die soziale Gerechtigkeit.

Die Mobilitätswirtschaft in ihrem aktuellen Handeln schadet sämtlichen Nachhaltigkeitszielen, denn sie verdient, ganz einfach, ihr Geld mit dem Gegenteil. Daran ändern auch die vielen Säue mit den Aufschriften ›Technologie‹ oder ›Innovation‹ nichts, die sie regelmäßig durchs Dorf treibt. Wer dazu allzu schnell sein Credo spricht, beteiligt sich an der Fortsetzung von Schaden und Ungerechtigkeit. Der Volksmund kennt den richtigen Ansatz bereits: »Warum denn in die Ferne schweifen, das Gute liegt so nah.« Verbesserung heißt, genau das Wirklichkeit werden zu lassen.