Vom Wachstum in allen klassischen Disziplinen ist die Rede: Geld, Personal, Fahrzeuge, Kilometer. Eine sehr wirkungsvolle Kategorie bleibt aber außen vor: das Haltestellennetz. Wie schon im Vorgänger-Plan operieren die Autoren auch diesmal mit Einzugsradien von 400 bzw. 500 Metern um eine Haltestelle für 80 bzw. 90 Prozent aller Einwohner (S. 80). Dieselbe Bedienungsqualität leistet sich, zum Vergleich, der Landkreis Leipzig (S. 4), dessen Bevölkerung insgesamt allerdings nur wenige Menschen mehr zählt als die von Spandau. Noch vor anderen Performance-Indikatoren hätte es sich gelohnt, auch an der Spree einen genaueren Blick auf das Verkehrszeichen mit dem grünen H zu werfen, oder genauer: auf deren Zahl und Verteilung.
Unter Verkehrsplanern gilt ein Erschließungsradius von 150 Metern für Bushaltestellen als modern; aber nicht aus reinem Vergnügen. Vielmehr finden sich mindestens vier gute Argumente, das Haltestellennetz so dicht wie möglich zu stricken: So erhöhen mehr Haltestellen je Streckenkilometer den Komfort und überhaupt die Nutzbarkeit des Fahrtenangebots für die Kunden. Insbesondere eingeschränkte Fahrgäste, also solche mit Gepäck, Einkaufstaschen, Kinderwagen oder medizinischen Hilfsmitteln, erweisen sich auch schon gegenüber ein paar Metern mehr zur nächsten Haltestelle als sehr empfindlich. Denn der Radius entspricht zwar einer Luftlinie, nicht aber der realen Strecke von der Quelle bis zur Haltestelle. Und: Der Fahrgast muss diese Distanz doppelt zurücklegen, zur Einstiegshaltestelle hin genauso wie von der Ausstiegshaltestelle weg. Deshalb bescheren größere Haltestellenabstände dem ÖPNV grundsätzlich einen knallharten Nachteil gegenüber der Konkurrenz, denn beispielsweise der eigene Pkw steht selten weiter als 150 Meter von der Tür entfernt — Realweg, nicht Luftlinie. Ein dichteres Haltestellennetz erhöht aber insbesondere die Auslastung und damit die Effizienz des Systems ÖPNV. In der Hydrologie heißt dieser Vorgang Infiltration: Je mehr Poren der Boden aufweist, desto mehr Wasser kann er aufnehmen. Da gerade in einer hoch verdichteten Großstadt wie Berlin die Anzahl der potenziellen Quellen und Ziele je Streckenkilometer bis zum Maximum reicht, sollte auch die Leistungsfähigkeit beim Zu- und Abgang durch viele Haltestellen maximiert werden. Die verfügen immerhin zusätzlich noch über eine nicht zu unterschätzende Symbolkraft. Im modernen Straßenverkehr, der fast vollständig als Erlebniswelt für das Automobil daherkommt, markieren sie wichtige Touchpoints für den ÖPNV und zeigen an, dass auch der Gemeinschaftsverkehr seinen Anteil am öffentlichen Raum beansprucht. Wer von seiner aktuellen Haltestelle aus die nächste schon nicht mehr sehen kann, wird nicht unbedingt auf Nähe und Erreichbarkeit durch den ÖPNV geprimet.
Auf hohem Niveau
Sicherlich, ohne Perfektion lässt sich immer jammern. Die Hauptstadt weist schon jetzt den bundesweit höchsten ÖPNV-Anteil an allen täglichen Wegen auf (S. 13). Dennoch beschwört der Volksmund nicht umsonst die problematische Beziehung zwischen dem Guten und dem Besseren. Gerade die Haltestellen enden sehr gerne im toten Winkel der Planer und der Entscheider. Mobilität bedeutet aber nicht, für teuer Geld möglichst viele Fahrzeuge hin- und herzuschieben, sondern möglichst vielen Menschen eine Verbindung von ihrem Start zu ihrem Ziel zu ermöglichen. Die nehmen sie umso häufiger in Anspruch, wenn sie dafür im Prinzip nur ihren Fuß vor die Tür setzen müssen. Wenn nun sogar eine quasi menschenleere Provinz einen vierzehnprozentigen Fahrgastzuwachs generieren kann — wie viele Menschen mehr als bisher stiegen dann in Berlin in die Busse und Bahnen ein, wenn die nur näher heranrückten?