Gewalt in Zahlen

Weil die Wissenden bewusst täuschen, entzieht der Straßenverkehr sich jeder Fairness.

  15.06.2020 | 7 Minuten  

Wieder einmal kursiert eine Einzeltäterthese, doch diesmal bezieht sie sich auf den Straßenverkehr. Der Verband der technischen Überwachsungsvereine behauptet, für die — von ihm selbst ermittelte — weit verbreitete Wahrnehmung, im Straßenverkehr nähmen die Aggressionen zu, seien nur wenige, dafür aber besonders aggressive Personen verantwortlich. Diese Einschätzung folgt aber geradezu zwingend aus gleich zwei unsachlichen Verkürzungen: Erstens blieb die Menge der im Verkehrszentralregister verzeichneten Verkehrsverstöße von 2006 bis 2016 verdächtig stabil zwischen 4,7 und 5,1 Millionen. Die Verteilung auf die Schwerestufen zeigt ebenfalls eine erstaunliche Homogenität: Mit 44 bis 47 Prozent bildeten die ›Ordnungswidrigkeiten mit einem Punkt‹ regelmäßig die größte Kategorie, die ›Straftat mit 5 Punkten‹ mit einem oder null Prozent dagegen die kleinste. Sogar nachdem der Punktekatalog Mitte des Jahres 2014 umgestellt worden war und nur noch sechs statt sieben Kategorien aufwies, streute die Gesamtmenge der erfassten Verstöße maximal neun Prozent um den langjährigen Mittelwert von rund 4,7 Millionen. Das legt den Schluss nahe, dass nicht die Realität auf der Straße, sondern die gleichbleibenden Kontroll-Kapazitäten der Behörden den Ausschlag dafür gibt, wie viele Delikte tatsächlich in der Statistik auftauchen. Die Dunkelziffer dürfte aber weit darüber liegen und, sollte sich die Auffassung der Befragten bewahrheiten, sogar stetig wachsen.

Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß

Denn Gewalt im Straßenverkehr geht beileibe nicht allein von Menschen aus, die bereits im Fahreignungsregister erfasst werden. Die dort registrierten 10,6 Millionen Personen (Stand: 1. Januar 2018) bilden weder die rund 29 Millionen Menschen in Deutschland ab, die mindestens ein Mal pro Woche das Fahrrad nutzen (Tabelle B P19.8), noch die rund 63 Millionen Menschen, die mindestens ein Mal pro Woche das Auto nutzen (Tabelle B P19.1). Für die Messung von Aggressionen im Straßenverkehr als relevant erweisen sich deshalb nicht nur Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, die mit mindestens einem Punkt geahndet werden, sondern alle Gewalthandlungen — gerade und vor allem die nicht erfassten, geschweige denn geahndeten.

Zweitens begünstigt nun einmal allein schon die strukturelle Ungleichverteilung von Macht im Straßenverkehr anhaltende und in der Häufigkeit wachsende Gewalttaten. Aber nicht nur die überbordende Mästung des Automobils mit Flächen– und Tempoprivilegien erzeugt Gewalt, sondern auch dessen feindliche Handlungen zur Aneignung fremder Rechte und Ressourcen, sei es in der Form chronisch ungeahndeten Schwarzparkens, in der Form mindestens der fahrlässigen Tötung, wenn nicht sogar des Totschlags mehrerer Tausend Menschen pro Jahr oder beispielsweise auch in jeder Vorfahrt, die es rechtmäßig querenden Radfahrern oder Fußgängern durch seinen gewaltsamen Abbiegevorgang entreißt.

Wer ohne Schuld ist, …

Das nimmt die Gewalttaten von Radfahrern gegen Fußgänger oder umgekehrt keineswegs aus. Jeder aus dem Nichts und nur um Haaresbreite am flanierenden Menschen vorbeirauschende Pedal-Proll ist einer zu viel, jedes selbstversunkene und am laufenden Band Beinahe-Unfälle produzierende Kopfhörer-Püppchen ebenfalls. Die realen Gefährdungspotenziale aber leiten sich eben nicht aus pseudo-empirisch erhobenen Befindlichkeiten oder politischen Wunschkonzerten ab, sondern schlicht aus physikalischen Grundgesetzen. Nach der Formel Ekin = ½m * v² weist ein Kleinwagen von der Größe eines VW up! (Gewicht: 1.000 kg) bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h eine kinetische Energie von 96.451 Joule auf. Ein nicht eben leichter Radfahrer (Gewicht: 100 kg) setzt bei 25 km/h rund 2.411 Joule um, eine mit 4 km/h zu Fuß gehende, übergewichtige Person (Gewicht: 100 kg) lediglich rund 61,73 Joule. Sogar das eher kleinere Kraftfahrzeug übertrifft also die Bewegungsenergie der Radfahrenden um das 39-fache, die der Zufußgehenden um das 1.561-fache.

Das wirksamste Programm gegen Gewalt im Straßenverkehr bestünde darin, die zulässige Höchstgeschwindigkeit zumindest innerorts auf 20 km/h zu senken — für alle. Plötzlich könnte der Pkw nur noch die 250-fache Bewegungsenergie des Zufußgehenden ins Feld führen, das Fahrrad gar nur noch die 25-fache. Weniger Gewalt im Straßenverkehr, weniger Todesopfer. Wer will das ernsthaft vermeiden, verzögern, schlechtreden? Der TÜV-Verband mit seiner kalkuliert manipulierenden Aussage tut jedenfalls nicht nur der Wahrheit, sondern auch seinem eigenen Image keinen Gefallen. Es könnte der Eindruck entstehen, er beteilige sich absichtlich an einer schon seit Jahrzehnten laufenden Kampagne des Bundesverkehrsministeriums, das mit immer wieder neuen Nebelkerzen versucht, von aller Übel Ursache abzulenken.