Statt invalider Wüstungen brauchen unsere Dörfer und Städte wieder Straßen, die Menschen auch in Querrichtung verbinden und zu echten Begegnungen einladen.
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Der Star-Architekt Jan Gehl hat eine klare Vorstellung von attraktiven Städten:»Es gibt einen sehr simplen Anhaltspunkt. Schauen Sie, wie viele Kinder und alte Menschen auf Straßen und Plätzen unterwegs sind. Das ist ein ziemlich zuverlässiger Indikator. Eine Stadt ist nach meiner Definition dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo des Automobils, sondern in jenem der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt. Wenn sich auf ihren überschaubaren Plätzen und Gassen wieder Menschen begegnen können.« Damit steht er bei Weitem nicht allein. So schreibt beispielsweise auch das Umweltbundesamt:»Wirkt eine Straße jedoch einladend auf zu Fuß gehende und Rad fahrende Menschen, existieren Gelegenheiten zum Aufenthalt, so entstehen Kommunikation und Interaktion. Der öfentliche Straßenraum füllt sich mit Leben.« Dass überhand nehmender Kraftverkehr für den Niedergang der Straße als öffentlichem Begegnungsraum sorgt, hatten US-amerikanische Wissenschaftler bereits in den 1960er Jahren angemahnt, so beispielsweise der Anthropologe Edward T. Hall:»When people walk, they get to know each other if only by sight. With automobiles the opposite is true. […] Automobiles insulate man not only from the environment but from human contact as well.«
Vorwärts statt auf der Stelle
Dennoch leisten heute nur sehr wenige Quellen einen Beitrag dazu, der Straße wieder zum Aufschwung zu verhelfen. Dazu würde im ersten Schritt zählen, sich ihre Aufgaben zu vergegenwärtigen — und zwar ausnahmslos alle, nicht nur die Abwicklung von Kraftverkehr. Es braucht nur wenig Fantasie, um dem Transport als Funktion auch das Erlebnis, die Begegnung, die Bildung, die Aushandlung, den Austausch und das Habitat hinzuzugesellen. Daneben drängt die Frage sich auf, weshalb große Strukturen — wie beispielsweise Warenhäuser oder Malls — noch immer so sehr auf der klinisch reinen Trennung zwischen dem Drinnen ihrer eigenen Verkaufsflächen und dem Draußen der Straße beharren, obwohl sie deren Potenziale doch gewinnbringend in das eigene Geschäftsmodell integrieren könnten — genauso wie beispielsweise die Außengrastronomie es schon längst tut.
In seinem Buch ›Die Enden der Welt‹ schrieb der Schriftsteller Roger Willemsen, im Winter wende die Eifel sich vom Menschen ab. Denselben Eindruck können aufmerksame Beobachter von nicht wenigen Straßen unserer Städte und Dörfer gewinnen — mit der bedauerlichen Folge, dass auch die Menschen, die sich darüber und darin bewegen, sich voneinander abwenden. Das macht nicht nur traurig, es läuft auch den aktuellen Erkenntnissen der Hirnforschung zuwider. Die entdeckt soeben in so genannten ›enriched environments‹ immerneuePotenzialefürdiegeistigeundkörperlicheGesundheit.
Schönheit als Wert und Maßstab
»Noch immer gibt es Kollegen, die der Ansicht sind, zunächst müsse die Straße ›funktionieren‹, dann könne sie auch noch gestaltet werden. Die Kunst der Straßenraumgestaltung besteht aber darin, alle Ziele gemeinsam zu erreichen: Funktion, Sicherheit und Schönheit!«,formuliert der Verkehrsplaner Harald Heinz. Diese Erkenntnis setzt sich nur langsam durch. Projekte wie beispielsweise die ›Flaniermeile Friedrichstraße‹ lesen sich auf den ersten Blick zwar gut, lassen aber die wichtigsten Fragen missen: Unter welchen Umständen fühlen die Menschen sich hier wohl? Was fehlt dazu noch? Was hindert aktuell daran?
Die ›klasse Straße‹ will als Modell Unterstützung dabei geben, die richtigen Fragen zu stellen und damit Straßenzüge gezielt wieder inwert zu setzen. Denn ein funktionierender Straßenraum entsteht beileibe nicht allein dadurch, für einen begrenzte Zeitraum den Kraftverkehr daraus zu entfernen. »Die Menschen zieht es zur Schönheit«,sagt der Wiener Verkehrsplaner Professor Hermann Knoflacher. Wer die herstellt, kann sich ganz nebenbei auch über eine verbesserte Verkehrsleistung freuen — auch wenn darin gar nicht der Hauptzweck der Straße besteht. Sie soll stattdessen das ›Ballett der Straße‹ ermöglichen, wie die US-amerikanische Soziologin Jane Jacobs es bereits 1960 genannt hatte. So geht Siedlungsentwicklung im 21. Jahrhundert.