Orte des Lebens, Zahlen der Krise

Die Corona-Pandemie verbreitet sich über den Träger Mensch. Der existiert nicht nur als Zahl, sondern er verhält sich in Zeit und Raum.

  22.03.2020 | 9 Minuten  

Jetzt sei die Zeit, sich zu orientieren, gab der Virologe Professor Christian Drosten Anfang der Woche zu Protokoll. Er hätte nicht besser zusammenfassen können, worum es eigentlich geht: Wieder einmal steht ein großer Elefant in unserer Mitte, und wir, die wir als Blinde ihn höchstens tastend untersuchen können, halten jeweils einen anderen kleinen Ausschnitt für das ganze Tier. Da avancieren so genannte ›Corona-Partys‹ zum Feindbild aller vermeintlich aufgeklärten Menschen, obwohl die Informationen darüber sich höchstens aus dem Hörensagen speisen. Da ergehen Warnungen vor bestimmten Medikamenten, die vermeintliche Risikofaktoren erhöhen sollen, und Begeisterungsstürme über angeblich vielversprechende Therapieansätze, beide jeweils ohne belastbare Grundlage und deshalb schon wenige Tage später als unzutreffend entlarvt. Da stellen Mathematiker und Programmierer Simulationen zusammen und berechnen modellhaft verschiedene Ausbreitungsszenarien, denen aber möglicherweise entscheidende Daten fehlen und die deshalb genauso gut völlig daneben liegen können.

Verlaufskurve zur Lage der Nation

Überhaupt hängt vieles an den verfügbaren Daten: Weil die Zahlen über Infizierte, Krankheitsverläufe und Todesopfer in jedem Land der Welt völlig unterschiedlich zustande zu kommen scheinen, verbieten sich rundheraus jegliche Vergleiche von Kennziffern. Nicht nur die je nach Schätzung übergroße Dunkelziffer stellt uns dabei vor Probleme. Auch zeitliche Verzerrungen haben wir nicht im Griff. Bis vor Kurzem konnte sicherlich gelten, dass die Sprünge der Zahl positiv Getesteter sich zu einem großen Teil aus der steigenden Anzahl der durchgeführten Tests erklärt. Die Gegenprobe: Aktuell meldet das Robert-Koch-Institut eine sinkende Neuinfektion, allerdings fehlen noch die Meldungen aus einigen Gebieten. Die Tests werden noch dazu räumlich unterschiedlich häufig vorgenommen, treffen auf eine unterschiedliche Test-Nachfrage und scheinen in ihrer Menge ohnehin begrenzt oder gar rationiert. So ergibt sich kein Gesamtbild, das wir aber dringend bräuchten, um seriöse Einschätzungen treffen zu können, beispielsweise über Risikogruppen und Hotspots.

Die öffentliche Diskussion behilft sich in dieser Hinsicht mit Vereinfachungen, die an Fahrlässigkeit grenzen. All die Landkarten, Verlaufskurven und Dashboards werfen sämtliche Untersuchungseinheiten trotz unterschiedlichster Ausgangsbedingungen munter in einen Topf und generieren daraus höchstens drei verschiedene Werte. Damit erwecken sie den Eindruck, ein hoch komplexer und todgefährlicher Zusammenhang werde allein aufgrund übersichtlicher Diagramme beherrschbar. Das dient zweifelsfrei dazu, den Zugang zu schaffen für alle Menschen, weit über diejenigen mit entsprechender Expertise hinaus. Es birgt aber auch die Gefahr, dass Erklärungen zwar zufrieden stellen, in Wahrheit aber nur einen sehr kleinen Teil der Realität erklären. »Wenn eine befriedigende Antwort auf eine schwierige Frage nicht schnell gefunden wird«, so schreibt Daniel Kahneman, »findet System 1 eine ähnliche Frage, die leichter ist, und beantwortet diese.«

Unbedingt deutlich breiter aufstellen

»Wenige der Entscheidungen der letzten Tage waren rein evidenzbasiert, viele waren vor allem politisch und bestimmt richtig.«, sagte Drosten vorgestern an anderer Stelle. Auf den Entscheidern und ihren Beratern lastet aktuell ein enormer Druck. Denn sie können nicht auf die Flut aus Big Data warten, um ihre Einschätzungen und Entscheidungen darauf zu gründen. Bislang kommt es vor allem auf ihre Erfahrung und ihre Intuition an. Als Methode bleibt beinahe nur die Beobachtung, obwohl die wegen des Zeitversatzes zwischen Aktion und Reaktion ebenfalls ihre Tücken aufweist. Ob Menschen sich beispielsweise flächendeckend an drakonische Ausgangsbeschränkungen halten, mag sich vielleicht sogar binnen Tagen beurteilen lassen. Welchen Einfluss die Maßnahmen auf die Ausbreitung des Virus nehmen, dagegen erst mit deutlich größerem Zeitverzug.

Jetzt sei die Zeit, so Drosten in seinem Podcast vom Wochenbeginn, in einen intensiven Konsultationsprozess einzusteigen zwischen Wissenschaft und Politik, und zwar unter der Beteiligung vieler Disziplinen, nicht nur der Medizin. Eine dringend notwendige Initiative! Abgesehen von der Analyseeinheit ›Infektionskette‹ blieben beispielsweise räumliche Einflussfaktoren bislang gänzlich unbeachtet. Der Fall Ischgl sollte uns aufrütteln: Nicht nur bei Corona-Partys exponieren Menschen sich gegenüber einer möglichen Infektion besonders intensiv. Auch dritte Orte genauso wie Orte der Versorgung bieten sich als Virenschleudern an. »Betrachte öffentliche Innenbereiche als kontaminiert.«, hält der Epidemiologe Professor Alexander Kekulé in seinen Corona-Spielregeln fest. Eine denkverbotsfreie, systematische Analyse unterschiedlicher sozial- und kulturgeografischer Merkmale mit Infektionsrelevanz — von der Haushaltsgröße über die Arztbesuche bis zur Teilnahme an Gottesdiensten — mag nicht den gesamten Elefanten erklären. Der tritt dieses Mal aber so gefährlich um sich, dass wir auf keinen einzigen Teil der Erklärung verzichten können.

Update, 24.03.2020: Aktuelle Studienergebnisse untermauern die Ahnung, dass raumbezogene Größen bei der Verbreitung des Sars-CoV-2 eine Rolle spielen. Wissenschaftler der Universität Bonn vermuten Pendler*innen als Superspreader, die in Italien auf besonders günstige Bedingungen träfen, weil in ländlichen Gebieten alte und junge Menschen in einem Haushalt lebten. Das könne die unerwartet hohen Todeszahlen in der Mittelmeernation erklären. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass allein schon die Zahl der Menschen pro Haushalt höher liegt als der hiesige Wert, wenn auch nicht viel; noch höher liegt er übrigens in Spanien und Polen, dramatisch viel höher beispielsweise in der Türkei. Die Pendlerzahlen eilen hierzulande dagegen jährlich von Rekord zu Rekord.