In der Debatte um unsere Online-Existenz dürfen wir niemals unsere Selbstbestimmung vergessen — oder gar wegschenken.
21.01.2019 | 10 Minuten
Im Juli 2018 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Beitrag über die ›Gesellschaft der Metadaten‹, eine Studie des italienischen Philosophen Matteo Pasquinelli. »Heute geht es nicht mehr darum, die Position eines Individuums zu bestimmen (die Daten), sondern die allgemeine Tendenz der Masse zu erkennen (die Metadaten).« Dies ereigne sich vor dem Hintergrund, dass durch die stetig wachsende Produktion von Daten über menschliche Aktivitäten, so genannte ›living data‹, mittlerweile ein eigener »Datenkontinent« entstanden sei, der analog zur physischen Welt eine immer präzisere Bestimmung von Relationen und damit eine immer korrektere Orientierung erlaube — und vor allem eine Prognose der Verhaltensweisen des Ganzen oder von Teilmengen, mit immer höherer Treffsicherheit.
Vorerst fremdbestimmt
Wenn derzeit also Datenräuber mit der Veröffentlichung ihrer Beute rund um den Globus für Verunsicherung sorgen, stellt sich sicherlich zunächst die Frage nach der totalen Sicherheit von Daten. Viel fundamentaler als die Verletzung unserer Privatsphäre muss uns doch aber eigentlich unser Output an Metadaten beunruhigen. Denn damit hinterlassen wir unübersehbare Spuren, selbst dann, wenn wir uns gegen die Preisgabe von Informationen zu unserer Person entschieden haben. Dass die sehr freie und sehr soziale Marktwirtschaft hierzulande allerdings keine Begeisterung für Online-Abstinenz aufbringen kann, äußert sich auf verschiedene Weise. Da wird dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck schlichte Vermeidung vorgeworfen, weil er, von der Veröffentlichung privater Chats erschreckt, sich aus verschiedenen so genannten ›sozialen‹ Kanälen verabschiedet:
»Sein Rückzug von Facebook und Twitter gefällt jenen, die sich selbst für progressiv, aber soziale Medien für narzisstischen Unsinn halten. Dabei wählt Habeck den einfachen Weg und blendet Probleme einfach aus.«
Als habe er mit der Nutzung von Twitter und Co. sein Recht darauf verwirkt, wieder weniger öffentlich zu agieren. Oder gar privat zu sein. In diese Richtung geht auch der Generalverdacht, unter dem alle Nutzer*innen stehen, die sich vorwiegend in geschlossenen virtuellen Räumen, etwa in Gruppen oder Foren von Messenger-Diensten, bewegen. Schon der frühere Regierungssprecher und heutige ARD-Intendant Ulrich Wilhelm nannte, indem er für eine gemeinsame europäische Plattform à la Youtube plus Facebook warb, den Begriff ›Teilöffentlichkeit‹ in einem Atemzug mit ›Polarisierung‹, ›Hass‹, ›Feindseligkeit‹ etc. Medien bedienen sich immer häufiger der Bezeichnung ›Dark Social‹, um diejenigen Kommunikationsaktivitäten zu kennzeichnen, die — weil sie eben privat sind — von keiner Statistik erfasst werden. Entweder verwenden sie ihn absichtlich dafür, oder sie nehmen zumindest in Kauf, allen Austausch, der nicht öffentlich werden soll, in die Nähe des Darknet zu rücken, des Inbegriffs für Kriminalität im Digitalen. Der Präsidentschaftswahlkampf in Brasilien, die Gelbwestenbewegung in Frankreich und der Amoklauf 2016 in München halten als mahnende Beispiele dafür her, dass wohl alles als Verschwörung gelten müsse, was nicht für alle einsehbar stattfinde.
»In den dunklen Kanälen gibt es selbst bei hochpolitischen Themen kaum sichtbare politische Akteure, Menschen mit anderer Meinung oder gar politische Debatten. Dort schreiben Nutzer in erster Linie mit vertrauenswürdigen Nachbarn oder politisch Gleichgesinnten. Das ist persönlicher Austausch, der sich nie nach Öffentlichkeit anfühlt.«
Gegen den (Daten-) Strom hilft radeln
Liegt aber in Privatheit tatsächlich eine Gesellschaften bedrohende Gefahr? Liefe das Gegenteil nicht auf Totalitarismus hinaus? Müsste dann nicht auch das leise Wort zu Angehörigen oder Freunden im Bus oder in der Kneipe sich schon verdächtig machen? Oder findet sich die Erklärung für solch vorgeschobene Argumentation gar in einem anderen Sachverhalt? Denn: Was die Statistik nicht erfasst, kann auch niemand monetarisieren. Und mehr noch: Erst, wer exakt über das Verhalten seiner Adressat*innen Bescheid weiß, kann sie erfolgreich anlocken. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari, dem das Prädikat ›Wissenschafts-Superstar‹ zugegebenermaßen so gar nicht steht, schlägt in dieselbe Kerbe. Er gebraucht konsequenterweise ein Bild aus der Welt des Digitalen, um den drohenden Verlust des freien menschlichen Willens zu illustrieren, vor dem auch andere kluge Köpfe schon seit geraumer Zeit warnen: »In früheren Jahrhunderten besaß keine Regierung oder Firma das Wissen über biologische Abläufe und die Rechenleistung, die notwendig sind, um ihre Gedanken und Wünsche zu kontrollieren. Aber heute gewinnen einige Regierungen und Unternehmen die Macht, Menschen zu hacken und zu manipulieren. Und am einfachsten ist es, diejenigen Menschen zu manipulieren, die glauben, dass sie nicht fremdgesteuert werden können, weil sie einen ›freien Willen‹ haben.«
Manipulation und damit ›Hacking‹ bilden gerade im Bereich Mobilität groteskerweise sogar eine Basis für künftige Geschäftsmodelle. Car Sharing Anbieter beispielsweise stellten schon vor Jahren in Aussicht, ihre Leistungen günstiger bis sogar kostenfrei anzubieten — denn das Geld planten sie mit dem Verkauf von Werbeaussendungen während der Fahrt im Fahrzeug zu verdienen. Genauso bieten sämtliche Mobilitätsdienstleistungen, die per Smartphone-App gebucht werden können — ob nun ein integrierter Bezahlservice für Tickets des Öffentlichen Nahverkehrs oder eben die Mietung eines öffentlichen Fahrrads —, Angriffsmöglichkeiten für Dritte, ihre Botschaften in die Gehirne der Zielpersonen zu pflanzen. Selbst jede Minute am großen Monitor oder am Smartphone ohne jeglichen Bezug zu Mobilität macht anfällig für Fremdsteuerung. Im Frühjahr 2018 warnte in Reutlingen sogar ein Verkehrsschild vor digitalen Blindgängern.
Harari irrt sich allerdings mit der Annahme, der freie Wille existiere gar nicht. Doch um der Ausbreitung der ›Smombies‹ zu wehren, aber auch um die Beeinflussung und Manipulation weiter Bevölkerungsteile zu minimieren, müsste sich, allen pseudo-aufklärerischen Unkenrufen zum Trotz, eine neue Kultur des Offline etablieren. Spaß haben, die eigenen Muskeln anstrengen, den Stoffwechsel ankurbeln und damit die Energieversorgung des Gehirns verbessern — das ganz herrlich analoge Fahrrad steht längst bereit für die Fahrt der Unhackbaren: hinein in die nicht fremdgesteuerte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Denn die existiert ganz real. Solange wir uns den freien Willen nicht gegenseitig absprechen, online wie offline.