Doch wer sich für die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts begeistern kann, findet gar nicht genügend Substanz für einen epochalen Showdown zweier Justiz-Giganten: Das Bundesverfassungsgericht rügte zwar, der Beschluss des Europäischen Gerichtshofes pro EZB-Staatsanleihen sei »im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar«, allerdings nur, um klarzumachen, dass dessen Urteil sich damit außerhalb der Rechtsgrundlagen — ›ultra-vires‹ — bewege und die Fragen, die das Bundesverfassungsgericht zu klären hatte, daher nicht berühre.
Im Kern geht das Gericht aber die beiden anderen Verfassungsorgane der Bundesrepublik an, die gegen das Grundgesetz verstoßen hätten, »indem sie es unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind.« Bundestag und Bundesregierung seien laut Grundgesetz dazu verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. »Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesbank.«
Zurückhaltung üben
Das Bundesverfassungsgericht wendet sich also keinesfalls gegen das Publik Sector Purchase Programm (PSPP) der Europäischen Zentralbank, sondern lediglich gegen dessen unkontrolliertes Zustandekommen. Es stellt im Prinzip fest, dass der Souverän, also das Volk der Bundesrepublik Deutschland in Form seiner Repräsentanz, nämliches des Deutschen Bundestages, eine saubere Abwägung und Begründung hätte einfordern müssen. Wenn nun also Allmachtsfantasien die Präsidentin der Europäischen Kommission ergreifen und sie, von vielen Stimmen getragen, feststellt, EU-Recht gehe vor nationales Recht, dann muss die kritische Nachfrage erlaubt sein, woraus die Europäische Union denn eigentlich besteht. »Die Union beruht auf völkerrechtlichen Verträgen, die von den Mitgliedstaaten geschlossen wurden.«,heißt es bei Jura-Professoren. Die Selbstaufgabe der konstituierenden Einheiten, also der einzelnen Nationalstaaten, ist darin bislang nicht vorgesehen.
Darüber hinaus war schon bei Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon klar, dass es zu Widersprüchlichkeiten in der Rechtsprechung kommen könnte. Darin liegt allerdings kein Katastrophenpotenzial, sondern das gehört im Gegenteil zum regelmäßigen dynamischen Prozess der Rechtsfindung. »Der Europäische Gerichtshof (EuGH) trifft eine Entscheidung, das Bundesverfassungsgericht trifft eine Entscheidung. Beide beobachten sich dabei und werden voneinander beeinflusst. Dieser Konflikt ist nichts Dramatisches, sondern in föderalen Ordnungen relativ selbstverständlich. Der Witz ist, dass die Fragen nie abschließend beantwortet werden und beide Gerichte darauf Wert legen, dass sie selbst etwas zu sagen haben. Das wird ein dynamischer Prozess, ein Gleichgewicht oder Ungleichgewicht bleiben, das man nicht dadurch arretieren kann, dass man sagt, jetzt hat der EuGH oder das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort.«,so ein weiterer Rechtsprofessor im Interview.
Der öffentlich Sturm der Entrüstung über das Bundesverfassungsgericht schadet diesem deshalb deutlich mehr als dessen Beschluss den europäischen Institutionen. Jedes Politiker-Ego muss sich im Klaren darüber sein, dass eine Demontage der obersten Hüter des Grundgesetzes nicht nur einer neuen Welle des Populismus und Nationalismus Vorschub leistet, sondern eben auch das Grundgesetz als solches fundamental infrage stellt. Aus der Disharmonie zwischen den beiden Gerichten lässt sich keineswegs ein demokratisches Endspiel konstruieren — auch nicht aus purer Lust an der Sensation. Wer das, wie Sven Giegold, dennoch versucht, zündelt seinerseits auf unverantwortliche Weise an den tragenden Pfeilern der jahrzehntelang mühsam errichteten europäischen Gemeinschaft — und verkennt dabei grundlegend, aus welcher Quelle seine eigene Macht sich eigentlich speist.