Das Igel-Syndrom

Nicht das Radfahren bringt Kinder in Gefahr, sondern die Denkfaulheit der Erwachsenen.

  20.01.2020 | 6 Minuten  

Eine individuelle Entscheidung zu treffen, ist eine Sache. Niemand kann und sollte Eltern das Recht absprechen, selbst einzuschätzen, was das Beste für ihr Kind ist. Aus der individuellen Präferenz einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch zu konstruieren, verstößt allerdings nicht nur gegen die Interessenpluralität, sondern führt auch zu systematischen Fehlentwicklungen.

Nicht alternativlos!

Die Zahlen der Kinder, die im Jahr 2018 verunglückten, können sicherlich verunsichern und sogar verängstigen. Leider begeht die aktuelle Analyse auf Zeit Online allerdings denselben Fehler, den die Radverkehrspolitik und -planung selbst bereits seit Jahrzehnten immer wieder munter reproduziert und der ihr damit zur zweiten Natur wurde: Sie behandelt den Radverkehr als eigenständiges und von den übrigen Verkehrselementen isoliertes System. Ansonsten hätte sie sicherlich nicht auf die Einordnung verzichtet, dass — gemäß desselben Dokuments des Statistischen Bundesamtes — fünf Prozent mehr Kinder im Pkw verunglückten als auf dem Fahrrad (Seite 6) und sogar 38 Prozent mehr Kinder im Pkw als auf dem Fahrrad getötet wurden. Selbstredend liegen die Zahlen der verunglückten Kinder im radfahrfähigen Alter dann höher. Denn die zeigen sich nun einmal schon allein aufgrund der Verkehrsmittelwahl als verletzlicher. Das ist keine Magie, das ist Physik.

»Insgesamt haben Kinder aber im Vergleich zu ihrem Bevölkerungsanteil ein geringeres Unfallrisiko als andere Altersgruppen.« (Seite 4) Das mag sicherlich insbesondere die Grundschulen nicht scheren, die als Aufhänger für den Beitrag auf Zeit Online fungieren. Bedauerlich, denn das könnte die üblichen, ideologisch getränkten Betroffenheits-Maschinerien abzumildern helfen. Der Bestätigungsfehler der Schulleitungen und der Verkehrswacht bezieht sich diesmal indes auf einen anderen Umstand: Wenn die Schulwege den Kindern ein sicheres und komfortables Radfahren verwehren, bieten sich sehr wohl kraftvolle Alternativen zu anhaltend gefährlichen Elterntaxi-Szenarien oder tödlicher Wegeführung: Schulwegpläne, geführte Radel-Verbände, Radfahr-Lotsen und schließlich infrastrukturelle Eingriffe für ein sicheres Radfahren.

Der Weg der Faulheit

Die Radverkehrsförderung des 21. Jahrhunderts kann es sich nicht mehr leisten, sämtliche ihrer Probleme zur ausschließlichen ›Familienangelegenheit‹ zu erklären. Weder die oberlehrerhafte Debatte um den Fahrradhelm noch der wiederkehrende Zeigefinger auf steigende Radunfall-Zahlen bilden die wahre Ursache der Schieflage im Straßenverkehr ab: das massive Kräfte-Missverhältnis. Statt also weiterhin pausenlos ausschließlich den Radverkehr zu stigmatisieren und in der Folge diverse kleinkarierte Zynismen zu pflegen, braucht es Akteure, die endlich Verantwortung übernehmen für das Gesamtsystem.

Dazu zählen mitnichten nur Politik und Planung. Auch Grundschulen müssen endlich in Erklärungsnot geraten, weshalb sie Kindern das Radfahren zur Schule untersagen, aber gleichzeitig nichts gegen Elterntaxis unternehmen wollen. Ihnen obliegt nicht weniger als die Verantwortung für die physische und psychische Entwicklung ihrer Schutzbefohlenen. Tiefensensibilität, Gleichgewichtssinn und räumliches Sehen können sich bei Kindern, die von ihren Eltern mit dem Auto zur Schule chauffiert werden, nicht altersadäquat entwickeln. »Wer den Schulweg verpasst, der verpasst das halbe Leben«, so der Erziehungswissenschaftler Marco Hüttenmoser. Dass viele Grundschulen den leichten Weg gehen wollen, nämlich sich einfach einzuigeln und das Radfahren wegen seiner lästigen Gefährlichkeit zu verbieten, mag sich aus der Auto-Gefangenschaft der Schulleitungen erklären — er wird trotzdem nichts zum Kindeswohl beitragen.