Die Ratten des Kopernikus

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Mag auch lange nicht jeder Mensch Sympathie für Ratten empfinden, so steht die Intelligenz der Nager doch außer Frage. Neuesten Forschungen zufolge reicht ihre Fähigkeit zur Datenverarbeitung sogar an die des Menschen heran. Die Frage, weshalb sie sich unter diesen Umständen fortgesetzt als Versuchstier für diverse Experimente hergeben, möge Philosophen oder Literaten sich stellen.

Das verrückte Labyrinth

Ob Nikolaus Kopernikus mit Ratten experimentierte oder sie gar als Haustiere hielt, spielt keine wirklich entscheidende Rolle. Denn zu Ruhm gelangte er durch eine andere Leistung, nämlich durch eine Klarstellung: dass nicht die Sonne, wie damals mehrheitlich geglaubt, sich um die Erde drehe, sondern dass es sich genau umgekehrt verhält. Eine solche kopernikanische Wende gebietet sich auch ganz dringend im Sachbereich Mobilität: Diverse Planungen und Geschäftsmodelle funktionieren hier nämlich nur, wenn die Individuen in Scharen darum herum kreisen — ob nun als zahlende Kund*innen, als Beförderungsfälle oder als tägliche Verkehrsbelastung.

Das spart ganz nebenbei aber auch die Verantwortung des einzelnen Menschen für das gesamte Mobilitätsgeschehen aus. Denn wer sich regelmäßig zum Profitobjekt degradiert sieht, kann nur noch reagieren. Er bzw. sie folgt dann entweder den weiteren Gängen des Labyrinths, die sich im Laufe der Zeit immer wieder eröffnen — als da wären Elektromobilität, Mikromobilität, Sharing Mobility, autonome Fahrzeuge etc. —, oder eben nicht. Solche Systeme lassen aber ganz undemokratisch so gut wie keine Alternative zu, geschweige denn eine kreative Neuorientierung von der Basis aus.

Moveo ergo sum.

Die Zukunft der Mobilität wird darin bestehen, sie in das Persönlichkeit beschreibende Handeln des Verantwortungssubjektes zu integrieren. Plötzlich enthebt die bis heute unehrlich geführte Debatte um die Verkehrswende sich den kleinlichen Kategorien von Kapazitäten, Verkehrsleistung und Verbrauch — also allen Größen, die auf die alte Economy of Scales einzahlen — und nimmt die Lebensgestaltung der einzelnen Person in den Blick: Wann möchte ich wohin gelangen, und wie? Welche Geschichte entsteht dadurch über mich? Stilberatung mit angeschlossenen Services wandelt sich zum Hauptgeschäftsfeld, begleitet immer dieselben Personen über mehrere Lebensphasen und löst den folgenlosen Verkauf von Stück und Menge ab

Was jahrzehntelang allein für das Autofahren optimiert wurde, findet nun endlich auch bei den anderen Verkehrsmitteln Beachtung: der Life Hack, die Motion Experience, die Social Practice, das Ego Invest und das Self Telling. Die lange benachteiligten Verkehrsmittel des Umweltverbunds ziehen deutlich vorbei, weil sie viel stärker auf die Selbstverwirklichung des Individuums einzahlen als die künstlichen Biotope für den Kraftverkehr, deren fortdauernde Mästung als das entlarvt wurde, was es wirklich ist: das krampfhafte Festhalten an einem alten, aber grundlegend falschen Weltbild — dem nur willenlose Laborratten sich freiwillig ergeben.