Mobilitätsarmut: Zugang verweigert

Ein unterwältigendes Webinar tut alles, invalide Ergebnisse durch schlechte Forschung mit einem Haufen Plattitüden anzureichern und anschließend als aktuellen Stand der Wissenschaft zu verkaufen.

  14.09.2023 | 6 Minuten  

Die Grundursache, weshalb wir in Deutschland der so genannten Mobilitätsarmut nicht Herr werden, mag darin zu finden sein, dass wir es strikt vermeiden, sie als Problem genau zu beschreiben. Ein Webinar der Agora Verkehrswende Mitte September übersprang die Frage nach grundlegenden Zusammenhängen und präsentierte stattdessen das Modell eines Referenzhaushaltes, »wo das Maß an Mobilität so ist, wie es sein sollte.« Die hastig vorgetragene Präsentation tat allerdings nichts dafür, aufzuklären, weshalb genau dieses Maß okay sei und wie das überhaupt gemessen wird.

Kein Interesse an der Wahrheit

Schon eine Definition von Mobilität selbst fehlte, ein Rechenbeispiel wurde aus dem Rückfragestream wieder gelöscht. Das öffnete selbstverständlich Tor und Tür dafür, dass jeder Diskutant sagen durfte, was er wollte und in solchen Diskussionen ohnehin immer sagt, egal welches Thema gerade auf dem Programm steht. Allein die Vertreterin der Caritas interessierte sich für die Frage »Was ist Mobilitätsreichtum?« aus der Anfangs-Wortwolke, kam aber später nicht mehr darauf zu sprechen.

Spätestens als der ADAC-Vertreter — weder ein ÖPNV- noch ein Fahrrad- oder Fußverkehrs-Vertreter waren geladen — ins Spiel bringen durfte, dass die Zufriedenheit mit der Mobilität auf dem Land höher sei, weil dort alle ein Auto besitzen, hatte die Veranstaltung jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Die Veranstalter hatten ihm zuvor quasi den roten Teppich ausgerollt mit einem zusammenfassenden Satz: »Wer nicht Auto fahren kann oder will, wird benachteiligt.« Woran das liegt — wirtschaftspolitisch, siedlungsstrukturell, physikalisch —, interessierte niemanden. Aber wer will ohne dieses Verständnis seriöserweise wirksame Maßnahmen vorschlagen können? Die zwingende Verknüpfung von Mobilität mit finanziellen bzw. monetären Aspekten verdammte das Forschungsvorhaben von vornherein dazu, invalide Ergebnisse zu produzieren. Nur für einen kurzen Augenblick blitzte ein kleines Fenster zum echten Erkenntnisinteresse auf, als die Vertreterin des Bundeswirtschaftsministeriums meinte: »Es geht ja eigentlich generell um Zugang, auch über die Geldfrage hinaus.« Unnötig zu erwähnen, dass dies ansonsten keine weitere Rolle spielte.

Deutschland versagt als Forschungsstandort

Die größte Schwäche schlechter Forschung mag darin bestehen, dass kritisches Publikum fehlt. So auch bei besagter Veranstaltung. Die höchste Zustimmung erhielt beispielsweise die Rückfrage »Warum sind Frauen stärker von Mobilitätsarmut betroffen, als Männer?«. Die Studien-Verursacher hatten etwa 30 Minuten zuvor festgestellt, dass sie diese These gar nicht aufgestellt hätten und das an den Daten auch gar nicht sehen könnten. Auch sonst tat das Publikum alles, seinerseits die eigenen Themen-Hitliste durchzujagen: ÖPNV, Car Sharing, alte versus neue Bundesländer etc. — also nichts, was zur ergiebigen Analyse beigetragen hätte.

Darüber hinaus hatten auch die Redebeiträge sämtlicher Beteiligten über das übliche Allgemeinplatz-Niveau hinaus nichts zu bieten. Ein Ausschnitt aus dem Buzzword-Bingo: »Da müssen lokal vor Ort individuelle Lösungen gefunden werden«, »Das ist ein vielschichtiges Problem«, »Da wird noch viel diskutiert werden müssen«, »Da muss weiter geforscht werden«. Ja, bitte! Aber richtig, und zwar beginnend mit neugierigen Fragen nach den grundlegenden Zusammenhängen. Und mit kritischem Publikum und einer kritischen (Forschungs-) Öffentlichkeit, die sich in Zukunft solchen Schwachsinn nicht mehr gefallen lässt.