Nur keine falsche Verwunderung!

Jetzt wäre der Zeitpunkt, Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wissenschaftlich zu belegen — oder sich anhand von Forschungsergebnissen neu zu orientieren.

  08.12.2020 | 6 Minuten  

Der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zeigte sich noch vor knapp einem Monat optimistisch, weil die Kurve der Neuerkrankungsfälle mit SARS-CoV-2 sich abschwäche. Seit gestern nun diskutiert die Politik wieder über eine Verschärfung der Einschränkungen zum Schutz vor einer weiteren Verbreitung des Virus. Gleichzeitig plant die Bundesregierung eine immense Neuverschuldung im kommenden Jahr, um die wirtschaftlichen Folgen abzufedern.

Sehenden Auges

Nicht, dass diese Entwicklung nicht absehbar gewesen wäre. Die Suche nach Erkenntnissen über die Verbreitung des Corona-Virus scheint nicht annähernd einen so hohen Stellenwert einzunehmen wie Superlativ-Stories über Staatshilfen-Unsummen, Verweigerer-Exzesse und Impfstoff-Wettrennen. Noch Anfang November hatte der recht mediengängige Epidemiologe Professor Alexander Kekulé in seinem Podcast behauptet, weil in rund 25 Prozent der Erkrankungsfälle auch die Infektionsumstände bekannt seien, ließe sich daraus gleichsam wie aus einer Stichprobe ganz gut auf die Grundgesamtheit schließen. Dabei handelt es sich leider um fachlichen Humbug. Jeder halbwegs über Wahrscheinlichkeitsrechnung informierte Mensch weiß, dass eine Stichprobe ihre eigene Grundgesamtheit abbildet und die Kunst ganz einfach darin besteht, diese Grundgesamtheit mit derjenigen, über die Erkenntnisse entstehen sollen, übereinzubringen. Das Problem im Falle der Corona-Infektionen beginnt schon damit, dass die genannten 25 Prozent nur Aussagen über die Grundgesamtheit der infizierten und mittel bis schwer symptomatischen Menschen erlauben, nicht aber über Menschen mit leichten oder gar keinen Symptomen, die das Virus aber trotzdem weiterverbreiten können. Erst recht lassen sich keine Schlüsse daraus ziehen, unter welchen Umständen Menschen sich eben nicht anstecken — eigentlich die wichtigste Information für einen wirksamen Infektionsschutz. Über die Gütekriterien empirischer Instrumente oder das Ziehungsverfahren der untersuchten Fälle ist da noch gar kein Wort verloren worden.

Statt also mit der Bazooka großflächig und undifferenziert um sich zu schießen, bräuchte es dringend mehr und bessere Informationen über die Mechanismen der Verbreitung. Ideen für Forschungsansätze finden sich genug, so zählt beispielsweise der Begründer der hiesigen Medizinstatistik, Professor Gerd Antes, auf: »Einmal müssen wir natürlich diese banalen Dinge angehen, die so wegdiskutiert werden. Zum Beispiel den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Da wird einfach gesagt: Da gibt es keine Infektionen, dann ist das Thema erledigt und dann wird alles auf die Privathaushalte geschoben. Ich habe große Zweifel daran, dass diese Statistiken stimmen. Und so banale Geschichten, wie zum Beispiel Einlasskontrollen in Supermärkten. Das hat ja im Frühjahr scheinbar ganz gut funktioniert. Wir haben aber nicht einmal im Ansatz begonnen, das wieder einzuführen. Das ist, denke ich, einer der ganz großen Fehler gegenwärtig.«

Auf welcher Grundlage?

Es muss frappieren, dass ein hoch entwickeltes, mitteleuropäisches Land im Angesicht einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte nicht wirklich viel darüber wissen will. Erst vor wenigen Tagen fragte ein Kommentar auf Zeit Online »150 Millionen — wofür eigentlich?« und nahm damit einen vollmundigen PR-Gag aus diesem Frühjahr wieder auf, der ganz offensichtlich zu nichts führte. Üblicherweise kräht nach solcher Ignoranz und Untätigkeit in der Wissenschaft kein Hahn mehr. Doch Vorsicht: Gerade im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird es sich ohne belastbare Erkenntnisse als immer schwieriger erweisen, neue oder verschärfte Schutzmaßnahmen zu legitimieren; das sollten nicht nur die von Gerichten wieder einkassierten Regeln zu Beherbergungsverboten und Sperrstunden eindrucksvoll gezeigt haben. Die Hoffnung, Corona so lange aussitzen zu können, bis ein Impfstoff alle Probleme löst, dürfte recht bald schmerzvoll zerplatzen.