Wer hat Angst vor engen Straßen?

Unsere Kinder könnten so vieles, das unsere Gesellschaft dringend benötigt, auf eigene Faust erlernen — wenn wir sie nur ließen.

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Schon die Prä-Corona-Bundesrepublik kannte eine große Risikogruppe und wird sie auch noch kennen, wenn Sars-Co-V2 das Land längst wieder freigegeben hat: unsere Kinder. Die Brutalität, die die Sprösslinge schon unter normalen Umständen täglich erfahren, und zwar durch uns alle, bleibt aber auch in Krisenzeiten unerwähnt. Wer auch immer Gelegenheiten für eine konkrete, handhabbare und legitime Veränderung sucht: Hier ist sie.

Glücklicher Nachwuchs

Sie könnte damit beginnen, das Kindeswohl als Gut in ein modernes Verständnis zu überführen. Während sogar ein nur langsam wachsendes Bewusstsein für Nutztiere als achtenswerte Lebewesen sich mittlerweile in konkreten Anforderungen an ihre Haltung niederschlägt, erweckt der öffentliche Diskurs fortgesetzt den Eindruck, bei Kindern handele es sich um ein schicksalhaftes Leiden, ohne das sogar der kumulierte Krisenstress für Eltern wie für das hiesige Bildungssystem sich doch eigentlich erträglich ausnähme. Das Kind als solches, dieses unhandliche Ding, mag sich beileibe nicht so fluffig in den Alltag einfügen wie unser Auto vor der Haustür. Dass unser Nachwuchs hierzulande seit langer Zeit schon mehrere Epidemien gleichzeitig erlebt: nämlich des Übergewichts, des Bewegungsmangels, der motorischen, der psychischen und der kognitiven Entwicklungsstörung, der Sehbehinderung, der sozialen Deprivation und sogar ganz schlicht der Schlafstörung, die wiederum viele dieser Probleme noch verschärft, darf uns nicht erst dann auffallen, wenn wir seinen Tagesablauf nicht mehr als Abfolge mehr oder weniger produktiver Zwischenlager organisieren können.

Das Kindeswohl, obschon von zwei Fachleute auf drei verschiedene Weisen definiert, bleibt chronisch auf der Strecke — im wahren Wortsinn. Denn außerhalb der privaten Räume der Zwangsbeglückung finden sich nur noch die als ›Spielplätze‹ bezeichneten Kinderzonen, hierzulande unbenutzbar, viel zu klein und außerdem meist vom Wohnnahbereich wirksam abgeschnitten. Der Fachbegriff ›Verinselte Kindheit‹ lässt nur erahnen, welches Trauerspiel wir da seit Jahrzehnten nicht nur geschehen lassen, sondern durch unsere Debatten und Handlungen aktiv befördern. Unkenntnis gilt als Ausrede nicht: »Gerade in einer bestimmten Entwicklungsphase ist der so genannte Hausnahbereich für Kinder sehr wichtig, da in diesem Raum die ersten von der Familie unabhängigen Erfahrungen mit der Umwelt gemacht werden.«, heißt es schon lange aus der Wissenschaft. Oder auch: »Wer den Schulweg verpasst, der verpasst das halbe Leben.« Mauernde Grundschulen, faule Eltern und die absichtlich gepflegte Täuschung von der glücklichen Familie im Automobil kosten unsere Kinder Lebenszeit, Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und letztendlich auch ihr Glück.

Hohe Rendite

Weder vergeistigte Debatten über reformierte Unterrichtskonzepte noch die brave Forderung noch Infrastrukturen für Menschen im Alter von acht bis 88 Jahren können diesen Schaden jemals wieder gutmachen. »Learning starts in infancy, long before formal education begins, and continues throughout life. Recent research in psychology and cognition demonstrates how vitally important the early preschool years are for skill formation.«, stellt der Ökonom James J. Heckmann fest. Als Gefangene des elterlichen Fahrdienstes verlieren Kinder deshalb nicht nur mehr als die Hälfte der unmittelbaren Erlebnisse unterwegs, sondern auch ihre Fähigkeit, dazuzulernen, prägt sich weniger stark aus: »Skills beget skills and capabilities foster future capabilities. All capabilities are built on a foundation of capacities that are developed earlier. Early mastery of a range of cognitive, social, and emotional competencies makes learning at later ages more efficient and therefore easier and more likely to continue.«, so Heckmann.

Hans kann später durchaus noch dazulernen; das menschliche Gehirn erweist sich — glücklicherweise — bis zum Tod als formbar. Allerdings muss er einen ungleich höheren Aufwand in Kauf nehmen und wird doch niemals vollständig ausgleichen, was ihm als kleines Hänschen damals verloren ging. Heckmann gibt in einem Interview zu: »Wir Ökonomen haben ›Kindheit‹ viel zu lange als einen einzigen Lebensabschnitt betrachtet. Inzwischen denke ich, dass das ein Fehler war. Denn sonst gäbe es nicht so gravierende Unterschiede: Wenn man benachteiligte Kinder sehr früh fördert, sind die ökonomischen Effekte enorm; wenn man sie erst im Jugendalter unterstützt, sind die Effekte minimal. Manchmal erzielen solche Programme sogar negative Renditen!« Abseits von sozioökonomischen Klassifikationen: Unsere aktuelle Siedlungs- und Verkehrspolitik, aber auch die konsumistischen Verhaltensweisen von Eltern benachteiligen alle Kinder, und zwar so fundamental, dass jeder schulische oder noch spätere Ansatz zur Beeinflussung von Verhalten zu spät kommt. Dass Kinder beispielsweise kaum noch Zeit in der Natur verbringen, zahlt sich später als negative Umweltschutzrendite aus — in hohen Beträgen: »Some psychologists argue that urban industrialized living compromises an individual’s sense of kinship with nonhuman nature, thereby opening the door to environmentally destructive behavior. Simply put, humans don’t protect what they don’t know and value.«

Erfolgreiche Politik

Wir blenden das Potenzial unserer Kinder und Jugendlichen aus, solange die Sorge um sie weiter in struktureller Vergessenheit verharrt. Weltoffenheit, Toleranz, Liberalität, Nachhaltigkeit, Suffizienz, Solidarität, Subsidiarität, Vernunft — die große Vielzahl der Haltungen, die wir bei unseren Zeitgenoss*innen aktuell schmerzlich zu vermissen vorgeben, können wir in unseren Kindern grundlegen. Ohne utopische Schulreform. Ohne abstruse Förderprogramme. Ohne den Rückfall in die Steinzeit. Dafür müssten wir sie nur wieder lange genug an die frische Luft schicken, ihnen die Straße zum Spielen zurückgeben, ihnen vielfältige Erfahrungen der Selbstwirksamkeit ermöglichen und ihnen nicht nur unter Zwang unsere Zuwendung schenken. Freilich braucht es Zeit, bis die Früchte sich bemerkbar machen. »Legten Mitte der 1960er Jahre Kinder im Grundschulalter in Spiel und Alltag im Sommer noch rund 20 Kilometer am Tag selbst zurück und waren dabei sechs Stunden draußen, so bewegen sich Kinder gleichen Alters heute nur noch vier Kilometer und sind zweieinhalb Stunden im Freien.«, heißt es in der Literatur. Deshalb sollten wir jetzt sofort anfangen.