Noch kein Ende der Sklaverei

Die Stimmen für Tempo 30 innerorts werden lauter. Doch auch spürbare Erleichterung schafft den Grundtatbestand des Gefangenseins nicht ab.

  11.05.2021 | 8 Minuten  

»Roads were not built for cars«. Dieses Mantra sollte sich in allen Gehirnen festsetzen, die dieser Tage über den Gegenstand öffentliches Straßenland befinden und eine Veränderung der Verhältnisse fordern, sei es als Neugliederung der Querschnitte oder als Revision der geltenden Regeln, allen voran der obszön laxen Geschwindigkeitsbeschränkungen. Zugegeben, die Vorstellung davon, wofür die Straße denn eigentlich gut sei, wenn nicht für den Kraftfahrzeugverkehr, muss bei den meisten Diskutierenden erst wieder neu erwachsen. Denn sie denken auch ihre Forderungen wieder vom Kraftverkehr her, nicht vom erwünschten Zustand. Darin aber zeigt sich, wie sehr die Versklavung durch motorisierten Verkehr mittlerweile in ihrer DNA Einfahrt fand. Auch ein Autor bei Zeit Online versuchte sich jüngst an einer Zukunftsvision, doch sein Bild blieb blutleer und seine Gedanken ähnelten denen der Besatzer: technokratisch, oberflächlich, belanglos und im Grunde gar nicht aufbegehrend. Ironischerweise zierte ein Foto des Verkehrsversuchs Flaniermeile Friedrichstraße seinen Beitrag — desjenigen Projekts, das ganz schlicht den einen Despoten, das Auto, durch den anderen Despoten, das Fahrrad, ersetzt. Mehr freiwillige Unterwerfung unter das automobile Denken geht nicht.

»Es sind in erster Linie die hohen Geschwindigkeiten, die den Verkehr, wie wir ihn heute kennen, erzeugt haben.«

Angesichts dessen droht die Debatte um niedrigere innerörtliche Tempolimits in eine ähnliche Vereinfachungsfalle zu laufen wie der unsagbar beschränkte CO2-Fetisch. Mehr Fantasie für die Straße von morgen ist dringend erwünscht. Wo das Klimagas sich aber als Resultante aus diversen Entscheidungen ergibt, kann die Geschwindigkeit als Determinante selbst gehörig Einfluss nehmen. Deshalb ergibt der Tempo-Talk dann doch Sinn. Nur: 30 Kilometer pro Stunde innerorts sind immer noch zu viel, zunächst aus ganz offensichtlichen Gründen. Wer könnte sich allen Ernstes gegen noch weniger Lärm, noch weniger Feinstaub, noch weniger Schadstoffe, noch weniger Verkehrsunfälle und noch geringere Unfallschäden aussprechen — egal ob nun lineare oder exponentielle Zusammenhänge mit der Geschwindigkeit bestehen?

Doch erst ab einer noch niedrigeren zulässigen Höchstgeschwindigkeit, beispielsweise ab 20 km/h, baut der gemischte Straßenverkehr tatsächlich die heute üblichen massiven Diskriminierungen nennenswert ab. Dann trauen sich auch weniger fitte oder mutige Menschen mit dem Fahrrad auf die Fahrbahn und zwingen ihren Willen ihrerseits nicht mehr den Zufußgehenden auf. Dann entstehen viel mehr Querbeziehungen über die Straße. Dann wandelt sich das ausschließende ›Blech des Stärkeren‹ zurück in das inklusive ›Ballett der Straße.‹ Ganz nebenbei stellen sich auch noch zwei weitere Effekte ein: Eine geringere Geschwindigkeit führt erstens zum Zusammenrücken der Räume und damit zu einem weitaus geringeren Energieverbrauch. So bringt der Verkehrswissenschaftler Rudolf Pfleiderer zu Papier: »Wer die Strukturentmischung als zentrales Element der Verkehrsverminderung fordert, und sagt, man müsse die Funktionen Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Einkaufen und so weiter wieder zusammen bringen, um den Verkehr zu verringern, verwechselt Ursache und Wirkung. Wer den Autoverkehr vermindern will, muss sich dafür einsetzen, dass langsamer gefahren wird. Dann würden auch die Funktionen wieder näher zusammen rücken.«

»Der Autoverkehr muss langsamer gemacht werden. Die Stadt der kurzen Wege ist die Stadt der langsamen Wege.«

Zweitens bauen geringe Höchstgeschwindigkeiten eine wirksame Barriere wider die Bequemlichkeit auf. Wer tatsächlich auf das Auto als Alltags-Verkehrsmittel angewiesen ist, findet sich nicht ausgeschlossen — wie das beispielsweise die ›Zonis‹, also Verfechter von Superblocks, Fußgängerzonen etc., mit ihren Forderungen erreichen wollen. Wer aber aus reinem Gefallen am Komfort das Auto wählt und die massiven Schäden an der Gemeinschaft für sein Privatvergnügen billigend in Kauf nimmt, wird sich in seinem Fortkommen unbequem gehemmt sehen, ohne dass er sich als Opfer von Stigmatisierung oder Enteignung gerieren könnte. Hier schlummert ein weitaus größeres Potenzial für einen nennenswerten Modal Shift als bei allen Kampagnen und Modellversuchen zusammengenommen.

Die Forderungen nach Tempo 30 innerorts dürfen also nur der Anfang sein. Es wird sich zeigen, ob die Szene der so genannten Verkehrsexperten sich hierzulande behaglich an den Fleischtöpfen des Status Quo eingerichtet hat und deshalb auch nicht mehr noch höher hinaus denken kann, oder ob die Erkenntnis sich durchsetzt: Die Herrschaft des Kraftverkehrs über unser aller Leben muss ein Ende nehmen, indem wir seinen wirksamsten Bann, das Tempo, brechen. Gegen friedliche Koexistenz dagegen ist nichts einzuwenden.