Der wiederkehrende Wettbewerb Stadtradeln verhilft dem Radverkehr nur vordergründig zum Aufschwung.
18.05.2021 | 9 Minuten
Nicht nur autokratisch organisierte Staaten produzieren sehr gern Bilder von vielen Menschen, die einer gemeinsamen Sache zujubeln. Das kommt nicht von Ungefähr: Nach dem Prinzip der sozialen Bewährtheit vermitteln solche Stücke dem anonymen Publikum einen Eindruck von Sicherheit, Verlässlichkeit und Attraktivität. Millionen begeisterte Menschen können nicht irren … Genau hierin bestünde eigentlich das Pfund, mit dem der Wettbewerb Stadtradeln des Klima-Bündnisses wuchern könnte. Leider packt er die Sache aber von der völlig falschen Seite an.
Nichts gespart
Erstens fokussiert er sich darauf, die Teilnehmer_innen Kilometer sammeln zu lassen; ob nun einzeln oder im Team. Genaugenommen entsteht dadurch aber nicht automatisch die Vermeidung von Pkw-Fahrten, die der Wettbewerb vollmundig verspricht:»Jeder Kilometer, der mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zurückgelegt wird, erspart der Umwelt 142 g CO2 (Angabe Umweltbundesamt), trägt zu weniger Verkehrsbelastungen, weniger Abgasen sowie weniger Lärm bei und führt zu lebenswerten Städten und Gemeinden!« Es steht viel mehr zu vermuten, dass ein Großteil der eingetragenen Kilometer entweder gar nicht stattfindet oder zusätzlich zu den alltäglichen Wegen zustande kommt, etwa als zusätzliche oder verstärkte Freizeitbeschäftigung — denn nicht die Verlagerung vom Pkw auf das Fahrrad, sondern die Gesamtmenge der mit dem Fahrrad zurückgelegten Kilometer wird gewertet.
Genauso liegt es nahe, dass das außergewöhnliche Verhalten der Menschen im Rahmen des Wettbewerbs keinerlei Übersetzung in die restlichen 344 Tage eines Jahres erfährt, die Sinnlos-Kilometer also statistische Ausreißer bleiben. Ein ähnliches Bild zeichnet die Untersuchung der Wirkungen von Blitzermarathons:»Zwar sanken die Unfallzahlen während der Aktionstage um durchschnittlich acht Prozent. Der Effekt verpuffte aber jeweils sofort nach dem Ende der Messkampagne wieder«.
Exklusiv für sportliche Trotzdemradler
Möglicherweise erweist der Wettbewerb mit seiner Leistungsfixierung sich zweitens sogar als abträglich für das Radfahren. In der Computerspiel-Branche warnen Stimmen mittlerweile vor Meritokratien, also Systemen, in denen die Leistenden die Herrschaft ausüben: »Das Soziale wird also letztlich doch wieder durch die zu optimierende Zahlenspielerei eines Computers moderiert — Level, Scores, Ranglisten. […] Die toxischsten Communitys seien […] jene, in denen nur auf Zahlen geschaut wird. […] Numerische Nabelschau macht asozial« Gamification als Bumerang. Mehr noch: Der Wettbewerb inszeniert das Radfahren als sportliches Ideal, dem allein aufgrund des sich verschlechternden Gesundheitszustands der Bevölkerung immer weniger Menschen werden folgen können. Stadtradeln erscheint zunehmend als Baustein einer Radverkehrsförderung, die aktive Exklusion betreibt. Attraction to the fittest.
Das gewinnt deshalb an Brisanz, weil der Trend der vergangenen zwanzig Jahre ohnehin in diese Richtung zeigt: Immer mehr Kilometer auf dem Fahrrad kommen durch immer weniger Menschen zustande. Die radeln aber nicht etwa, weil die Radfahr-Bedingungen hierzulande sich verbessert hätten, sondern obwohl genau das eben nicht passiert. Zwischen der ›Zufriedenheit mit dem Fahrrad‹ einerseits und dessen Nutzungshäufigkeit andererseits besteht laut der Studie ›Mobilität in Deutschland 2017‹ kein Zusammenhang, ebenso auch nicht zwischen der Zufriedenheit einerseits und der Einstellung ›Ich fahre gerne Fahrrad‹ andererseits. Die Fahrrad-Neigung korreliert aber mit der Nutzungshäufigkeit, und zwar, wie die Erkenntnisse der Einstellungs-Verhaltens-Forschung nahelegen, umgekehrt zur landläufigen Meinung: Je häufiger Menschen Fahrrad fahren, desto mehr mögen sie es. Das schrumpfende Segment der Vielradler_innen, wir könnten sie auch ›Trotzdemradler_innen‹ nennen, schönt mit seiner Leistungssteigerung die Gesamtbilanz. Genau auf sie zielt deshalb auch der Wettbewerb Stadtradeln.
Die Faulheitsfalle
Einen solchen dümmlichen Import drittens dann auch noch als Radverkehrsförderung zu verkaufen, grenzt schon an mutwillige Sabotage — zumal wenn ein ganzes Bundesland sein bislang bestes Pferd im Stall, eine breit aufgestellte Fahrrad-Kampagne, gänzlich auf dieses Idiotenrennen ausrichtet. Dass wieder nur weniger als ein Prozent der Bevölkerung erreicht wurde — übrigens nur auf getrickste Weise: Der Aktionszeitraum wurde verlängert — kann als Quittung für den Elitarismus gelten, der der gesamten Stadtradeln-Geschichte aus allen Poren quillt. Mit dem Nationalen Radverkehrsplan 3.0 und dem darin enthaltenen Ziel, aus durchschnittlich 3,7 Kilometern pro Fahrradfahrt ganze sechs zu machen, findet der Unsinn sich nun auch offiziell zum Staatsziel erhoben. Oma Erna, die mit ihrem Fahrrad doch nur um die Ecke zum Einkaufen fahren möchte, hat im System keinen Platz mehr.
In der aktuellen Corona-Krise blamiert Deutschland sich soeben genüsslich als unfähig zu datenbasierten Entscheidungen, ganz einfach weil die Inkompetenz schon bei der Datenerhebung und -analyse beginnt. Die Radverkehrsförderung fischt seit ihren Anfängen regelmäßig in noch trüberen Gewässern. In diesem Umfeld erscheint der Wettbewerb Stadtradeln mit seinen harten Kilometer-Angaben wie ein leuchtendes Heilsversprechen. Eigentlich bildet er aber, genau wie der Appell an die Klima-Moral, nur eine bequeme Abkürzung, die Denk-Energie zu sparen hilft. Die wahren Gunstfaktoren für das Radfahren — die, auch dies ein massiver Irrtum, nicht ausschließlich beim Radverkehr selbst zu suchen sind — bleiben auf diese Weise im Dunkeln. Vielleicht besser so, denn es könnte sich herausstellen, dass nicht ›die Faulheit der Radfahrenden‹, sondern die Faulheit der Verantwortungsträger_innen ein nennenswertes Wachstum des Radverkehrs verhindert.