Ein Fest des freien Willens

Wenn der Weg eines Einzelnen in die Quarantäne erst über den Club führt, baden alle den Kater aus.

  13.03.2020 | 7 Minuten  

Krisen wie die Corona-Pandemie konfrontieren uns, ob wir wollen oder nicht, auch mit grundsätzlichen Fragen. So wogt der öffentliche Diskurs aktuell zwischen Zwang und Laissez-faire, je nachdem, wer die Tagesereignisse kommentiert. Wenn ein 29-jähriger Familienvater, nach eigenem Bekunden soeben von einer schweren Lungenentzündung genesen, zu einem Zeitpunkt eine Tanzstätte aufsucht, da das Corona-Virus auch in seiner Stadt längst um sich greift, können wir ihm unterstellen, dass er damit seinen freien Willen als Mensch ins Werk setzte.

Illusion oder Missverständnis?

Nun liegt die Welt der Neurowissenschaftler bedauerlicherweise im Streit darüber, ob der Mensch überhaupt über einen freien Willen verfügt. Nein, sagt der Hirnforscher Professor Gerhard Roth, er hält das Konzept für eine Illusion. Aus dem Feuern oder Nicht-Feuern von Hirnzellen ließe sich noch lange nicht auf die Gedankenwelt des Menschen schließen, hält der Soziologe Professor Dirk Baecker entgegen. »Die Hirnforscher interessieren sich nur für die Funktionsweise der Neurone und ihrer Netzwerke. Aus dieser Perspektive können sie jedoch weder Gedanken noch Empfindungen wahrnehmen.«

Der Neuropsychologe Professor Lutz Jäncke kümmert sich gar nicht erst um die Definition des freien Willens, sondern hebt eine wichtige Tatsache heraus: Der Mensch besitze prinzipiell die Fähigkeit, sich gegen eine verlockende und unmittelbar verfügbare Belohnung zu entscheiden — im Gegensatz beispielsweise zu Primaten. »Diese Belohnungsverzögerung, delay of gratification, ist die Grundlage für unseren akademischen Erfolg, für unseren beruflichen Erfolg und, was noch viel wichtiger ist, für unseren sozialen Erfolg.«

Der Faktor Selbstzweifel

In diesem Lichte betrachtet, könnten wir uns also auch auf den gegenteiligen Standpunkt stellen und behaupten: Der besagte 29-jährige Familienvater hat es unterlassen, seinen freien Willen zu gebrauchen, indem er dem automatischen Impuls nachgab, tanzen zu gehen — obwohl der mindestens noch einen zweiten Gedanken wert gewesen wäre. Das trifft auch auf seine Vorwürfe an die Gesundheitsbehörden des Berliner Bezirks zu: Seine Unterlassung anerkennend, hätte er auch demütig schweigen könne, statt sich als Opfer von Amtswillkür zu gerieren und genau dasjenige Merkmal, dessentwegen er lieber seinen Frontalcortex erst Recht hätte um Rat fragen sollen, nämlich seine Vorerkrankung, in vorderste Stellung zu bringen.

Der Nobelpreisträger Professor Daniel Kahneman unterscheidet in seinem Bestseller ›Schnelles Denken, langsames Denken‹ — stark verkürzt dargestellt — zwischen dem intuitiven System 1 und dem rationalen System 2: »System 1 protokolliert nicht die Alternativen, die es verwirft, oder auch nur die Tatsache, dass es Alternativen gab. Bewusste Zweifel gehören nicht zum Repertoire von System 1; dazu wäre es erforderlich, gleichzeitig an miteinander unvereinbare Interpretationen zu denken, wozu es mentaler Anstrengung bedürfte. Ungewissheit und Zweifel sind die Domäne von System 2.« (Seite 106)

Etwas mehr Grips, bitte!

Die gute Nachricht lautet also: Der Mensch muss sich von seinem Autopiloten weder durch Krisenzeiten noch durch sein übliches Alltagsverhalten passiv hindurchschleusen lassen, er kann zu jeder Zeit selbst das Steuer ergreifen. Die schlechte Nachricht besteht allerdings darin, dass der Anteil der rational getroffenen Entscheidungen beinahe gegen null geht. Vernunft benötigt nämlich nicht nur die vierfache Menge an mentaler Energie, sondern vor allem setzt sie Kompetenz voraus.

Der Psychologe Professor Gerd Gigerenzer etwa vertritt brisante Thesen zur Mündigkeit von Patient*innen: »Ein großer Teil der Bevölkerung versteht Risiken und Chancen nicht. Viele wissen nicht, wo man verlässliche Informationen finden kann. Falsche Risikoeinschätzung und blindes Vertrauen in die medizinische Versorgung gefährdet ihre Gesundheit.« Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch lange nichts vom aktuellen Corona-Virus. Das kommentiert er dagegen neulich im Fernsehen: »Wir müssen lernen, mit Ungewissheit zu leben. […] Wir müssen aber auch das Objekt unserer Angst lernen.« Am 22. Juli 2014 titelte der Guardian zum Thema Volksgesundheit: »In the 19th century it was clean drinking water, now its healthy behaviour«. Weder Panik noch Ignoranz helfen durch die Krise. Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Gesundheit und gegenüber der Gesundheit unserer Mitmenschen dagegen schon.