Neue Ketten, sie zu schmieden

Dass Epidemien dem Güterverkehr ähneln, sollten wir uns analytisch zunutze machen.

  13.04.2020 | 7 Minuten  

Eine Krise zeichnet sich auch dadurch aus, dass gewohnte Zusammenhänge ins Wanken geraten. Lieferketten beispielsweise brechen reihenweise zusammen. Die Globalisierung, die sich auch als zunehmende weltweite Vernetzung beschreiben lässt, befindet sich auf dem Rückzug. Die Frage nach Ersatz stellt sich nicht nur bis zum Ende der Krise, sondern generell.

Resiliente Regionen

Regionale Produkte erfahren hierzulande seit einiger Zeit wieder einen Image-Aufschwung. Mancher Autor schiebt das der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung in die Schuhe und sieht Konsumenten ermüden: »Es scheint, als habe die Globalisierung der Märkte gegenteilige Effekte zur Folge. Die Faszination für die Ferne und die Tatsache, dass die Menschen ihrer in Form von importierten Gütern habhaft werden können, haben den Reiz des Neuen verloren. Die Suche nach Beständigkeit und Übersichtlichkeit tritt nach vorn. Sie weckt die alte Sehnsucht nach Heimat oder dem, was die Menschen dafür halten — nach etwas, das sie kennen und verstehen.« Hinsichtlich der Klimabilanz griffe aber die Gleichung ›regional = nachhaltiger‹ möglicherweise zu kurz: »Unter bestimmten Umständen weisen Produkte aus Übersee eine bessere Umweltbilanz auf als Produkte aus der Region.«, heißt es in einer Reportage des Bayerischen Rundfunks.

Doch die Sicherheit der Versorgung könnte sich auf regionaler Ebene als überlegen erweisen gegenüber globalen Lieferbeziehungen. Die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde schickt im Rahmen des Programms region 4.0 exemplarisch den UckerGruß auf Reisen: »Die Eier-Aktion zu Ostern ist ein erster Beispiel-Pfad, der fünf lokalansässige Betriebe und Einrichtungen verbindet: Ucker-Ei (landwirtschaftliche Produktion), die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft (Lieferung), Q-Regio (Bereitstellung von leeren, genormten Transportkisten), die Uckermärkischen Werkstätten in Prenzlau (Verarbeitung: Eier werden gekocht und gefärbt) und die Bäckerei Schreiber in Angermünde (Warenempfang und Weitergabe an Kundschaft).« Die Hochschule profitiert freilich davon, dass die Uckermärkische Verkehrsgsellschaft bereits seit September 2012 mit ihren Omnibussen regelmäßig unbegleitete Fracht befördert und auf diese Weise regionale Lieferketten etabliert hat, wie sie schon zu Zeiten der Postkutsche üblich waren, die ja neben dem Gütertransport auch Personenreisen anbot. Das Projekt kombiBUS, an dem neben weiteren Experten aus Berlin, Trier und Oelsnitz seinerzeit auch Diplom-Geograph Johannes P. Reimann beteiligt war, reichte bis zur Liefer-Kooperation mit einem Einkaufszentrum und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Landesregierung Brandenburg nahm das vorbildliche Konzept in ihren Koalitionsvertrag von 2014 auf.

Alles ist Kette

Güternahverkehr entspricht der Realität jedenfalls deutlich besser als feuchte Träume von logistischen Großprojekten. Ähnliches scheint für die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu gelten, denn hier fungiert der Mensch als Transportmittel. Der legt in Deutschland aber ebenfalls durchschnittlich höchstens vierzig Kilometer zurück, und zwar an einem normalen Tag. Wenn Experten im Zusammenhang mit der aktuellen Epidemie allerdings von Infektionsketten sprechen, meinen sie damit höchstens den zwischenmenschlichen Kontakt, der für Ansteckungen untereinander sorgt. Angesichts des fundamentalen Mangels an belastbaren Erkenntnissen über SARS-CoV-2 einerseits und der gefährlichen Tendenz, das Halbwissen in leicht zu glaubende Zahlenwerte zu kondensieren, andererseits: Ließen sich nicht deutlich größere Erkenntnisgewinne generieren, indem wir den Weg des Virus‘ als Lieferkette begreifen und in alle seine Einzelereignisse und Zwischenetappen gliederten? Könnten nicht sogar mathematische Modelle umso präzisere Vorhersagen machen, wenn sie sich auf besser gesicherte Teilwahrscheinlichkeiten stützten als auf eine generalisierende Basisreproduktionszahl, die sich aufgrund schwankender Daten täglich verändert? Könnten nicht genau diejenigen Erfahrungen und Managementmethoden, die zur Sicherung von Lieferketten zum Einsatz kommen, dazu nützen, die ›Lieferketten‹ des Virus‘ zu stören und bestenfalls zu brechen?

In der öffentlichen Debatte fixieren wir uns aktuell sehr stark auf das positive Testergebnis, also quasi die ›Zustellbenachrichtigung‹ für das Virus. Wir sollten deutlich mehr Grips investieren, die gesamte Kette davor aufzuklären und zu unseren Gunsten zu verändern. Aus Veränderungen des Mobilitätsverhaltens gleich eine Ermüdung der Menschen in Bezug auf anti-epidemische Maßnahmen zu konstruieren, erscheint unseriös und gefährlich. Doch der Ansatz geht in die richtige Richtung: Wir brauchen nicht nur viel mehr und viel genauere Daten über das Produkt, sondern auch über seine Transportwege — dann können wir seine Reise früh genug unterbrechen.