Amtsträger im deutschen Staatsgefüge werden nicht müde, die hiesige Rechtssicherheit zu lobpreisen. Im Straßenverkehr findet sich nichts davon.
03.10.2019 | 8 Minuten
Als ich noch in Trier lebte, kam mir mehr als ein Mal das Gerücht zu Ohren, das Ordnungsamt nähme absichtlich bestimmte Wohnviertel von der Verkehrsüberwachung aus. Die Legende spann sich schließlich bis zu der Behauptung weiter, das sei von Stadträten und Wirtschaftsbossen veranlasst worden, die dort wohnten und die sich, nach einem quälenden Tag im Dienst am Gemeinwohl, nicht auch noch mit der Parkplatzsuche plagen wollten. Ein Beweis für das Gerücht tauchte nie auf — zumindest damals nicht.
Interessanterweise berichtete Spiegel Online jüngst über verschiedene Städte, in denen solche Schonung zur gängigen Praxis gehöre. Insbesondere der Wirtschaftsverkehr müsse demnach eher selten oder auch gleich gar nicht fürchten, mittels Knöllchen zur Ordnung gerufen zu werden. Das liest sich zunächst wie der Skandal über mafiöse Verhältnisse in heruntergekommenen Ex-Metropolen, wo ohnehin eher Chaos und Anarchie die Straßen beherrschen. Doch dahinter steckt eindeutig ein seit Jahrzehnten etabliertes System der flächendeckenden Duldung. Sogar manches Innenministerium weist, völlig ohne Scham, darauf hin, Kontrolle und Ahndung von Falschparkern ergäben per se eigentlich keinen Sinn:
»[Bei der Verkehrsüberwachung] kommt es insbesondere darauf an, einen wirksamen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr zu leisten, anstatt Verstöße massenhaft und unreflektiert gegenüber ihrer Bedeutung für die Verkehrssicherheit zu ahnden.«
Falsch parken für den Dopamin-Kick
Mal ganz davon abgesehen, dass erstens jeder Verstoß nach geltender Rechtslage nun einmal eben ein Verstoß ist und deshalb allein schon ahndungswürdig, zweitens das Straßenverkehrsrecht Verstöße nicht nach Gusto bestimmt, sondern weil die zu ahndenden Sachverhalte grundsätzlich immer die Verkehrssicherheit gefährden und drittens aus dieser Formulierung einer staatlichen Autorität eine unerträgliche Willkür spricht: »Neben der generalpräventiven Wirkung wird der Verkehrsüberwachung auch ein spezialpräventiver Effekt zugeschrieben«, heißt es in einem Aufsatz der Bundesanstalt für Straßenwesen. Die mangelnden Rechtshygiene führt umgekehrt ganz handfest dazu, dass Delinquenten erst gar kein Unrechtsbewusstsein ausbilden, wie Ordnungsbehörden immer wieder beklagen — dieselben übrigens, die sich ihrer alltäglichen Aufgabe schlicht verweigern und sich höchstens für medienwirksame Schwerpunktaktionen herablassen, ausnahmsweise mal nach dem Rechten zu sehen. Sie installieren und pflegen damit allerdings ein Belohnungssystem, das deutlich stärker wirkt als alle Appelle zusammen, aufeinander Rücksicht zu nehmen oder gar auf umweltfreundliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Die Hirnforschung konnte auch mit modernen Messverfahren nachweisen, was die Verhaltenspsychologie schon länger zu ihrem Instrumentarium zählt: Die Aussicht auf eine Belohnung treibt das Handeln an — übrigens umso stärker, je fraglicher die Belohnung erscheint oder je stärker sie variiert. So stellt beispielsweise der Hirnforscher Gerhard Roth fest:
»Das Problem ist auch, dass sich Belohnung bei ihrer Wiederholung erschöpft — man muss sich also immer etwas Neues einfallen lassen. Zudem ist eine erwartete Belohnung nur eine halbe Belohnung. Es muss einen Überraschungseffekt geben.«
Aus dieser Erkenntnis strickt das Silicon Valley schon seit geraumer Zeit seine Produkte mit Suchtfaktor. Die Mobilitätsforschung gibt sich in diesem Punkt allerdings bisher völlig ahnungslos und auch Ministerien reihen sich ein in die Scharen der Unbedarften. Es steht zu vermuten, dass die geplante Erhöhung von Bußgeldern — sorry, Herr Scheuer — ohne gleichzeitige Verschärfung der Kontrollen den Kick eher noch steigert: Der Gewinn, der dem winkt, der nicht erwischt wird, erhöht sich. Die Wahrscheinlichkeit, nicht erwischt zu werden, bleibt hoch. Das gleicht einem Glückspiel mit beinahe garantiertem, aber eben höherem Gewinn. Schon in Trier führte das dazu, dass parkwillige Kraftfahrzeuge mich vor dem örtlichen Schwimmbad bisweilen vom Gehweg zu schieben beabsichtigten — mitten im absoluten Halteverbot.
Selbst gezüchtete Tyrannei
Wir könnten die Verkehrswende allein damit zu mehr als der Hälfte bewältigen, dass wir die Privilegien des Automobils zurückstutzen. Denn je weniger Ansprüche an fremde Flächen es durchsetzte, desto mehr stünde es sich selbst im Weg. Autofahren würde von ganz allein unattraktiv. Wir könnten Flächen zurückgewinnen, die ohnehin uns gehören, und unsere Städte und Dörfer lebenswerter machen. Wir könnten unsere Kinder wieder ein Stück weiter vor die Tür lassen, weil wir selbst sie nicht zu überfahren drohten, indem wir unser Fahrzeug widerrechtlich abstellen. Doch statt der Bestie endlich Einhalt zu gebieten, züchten wir sie mit dem Freibrief unseres vorauseilenden Gehorsams erst recht zu unserem Tyrannen. Was die Verfolgung von Verkehrsdelikten angeht, leben wir längst in einem Unrechtsstaat