Veraltetes Denken

Deutschland kann das Doppel-D zum Erfolgsprodukt machen, wenn es endlich überholte Ansätze überwindet.

  11.07.2019 | 8 Minuten  

Wir müssen dringend reden. Über Demokratisierung und Digitalisierung. In dieser Kombination. Der soeben von der Bundesregierung herausgegebene ›Deutschlandatlas‹ bietet dafür eine hervorragende Gelegenheit.

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Sehen wir ganz einfach mal über den Titel des Berichts hinweg, der angeblich die Ergebnisse der ›Kommission Gleichwertige Lebensverhältnisse‹ referieren will — und es dem Vernehmen nach doch nicht so richtig tut. Aus der Überschrift ›Unser Lied für Israel‹ liest sich jedenfalls deutlich weniger Zwietracht, Inkompetenz und Möchtegern-Autokratie heraus. Tatsächlich muss aber das Begleitwerk dazu, der ›Deutschlandatlas‹, einigen Anlass zur Sorge geben — denn das Bundesinnenministerium sieht in diesem Zeugen mentaler Gerinnung nicht weniger als einen »Leitfaden und [die] Erkenntnisgrundlage der neuen Heimatpolitik des BMI.«

Erstens hat das Ministerium Deutschland beileibe nicht »neu vermessen«. Deutlich gehaltvoller und tiefschürfender tritt beispielsweise die Publikation ›Die demografische Lage der Nationen‹ auf, die entgegen dem Titel eben auch Daten aus vielen anderen Politikbereichen analysiert und die jährlich aktualisiert wird. Schon im Studium vor mehr als einem Jahrzehnt diente sie mir als hilfreiche Wissensgrundlage. Bereits damals ging sie nach dem Prinzip vor, nur einen Indikator pro Karte darzustellen — das will der ›Deutschlandatlas‹ jetzt als innovativen Vorteil für sich geltend machen (S. 7) —, bot dabei aber häufig mehr hilfreiche Analyse als reine Deskription.

Oberflächlich und analog

Zweitens presst der ›Deutschlandatlas‹ dagegen in der Hauptsache allerhöchstens die ohnehin existenten Karten der laufenden Raumbeobachtung durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in ein eindimensionales Dokument, hier und da ergänzt durch ein paar Kartenwerke vom Thünen-Institut. Er ererbt damit leider auch diverse Schwächen, die sich im Spannungsfeld von Methodik und politischer Norm bewegen. Selbstverständlich lässt sich beispielsweise die Erreichbarkeit von Grundschulen methodisch sauber und sogar minutengenau als Pkw-Fahrtzeit (S. 94f) darstellen. Aber wen wundert es da, dass wir über das noch immer wachsende Phänomen ›Elterntaxi‹ klagen, wenn nicht einmal der ›Deutschlandatlas‹ — also ein Werk obersten politischen Anspruchs — sich in der Lage sieht, gleichberechtigt dazu auch einen Fuß-, einen Fahrrad- und einen ÖPNV-Indikator zum selben Thema zu liefern? Die Daten dazu liegen anscheinend vor. Wie vielen älteren, gebrechlichen Menschen soll die Pkw-Erreichbarkeit von Krankenhäusern und Apotheken (S. 80ff) nützen? Wer mag aus einem Sechshundert-Meter-Radius um die Haltestellen des ÖPNV herum eine ausreichende Erschließung (S. 70f) lesen, wo doch die Hälfte davon längst als Minimalkonsens gilt? Und was sagt die bloße Zahl von 20 Abfahrten pro Tag über die Möglichkeit aus, mit Bus und Bahn tatsächlich das gewünschte Ziel zu erreichen?

Drittens atmet die laufende Raumbeobachtung noch immer den Staub der Bibliotheken des vorigen Jahrhunderts, der ›Deutschlandatlas‹ als deren oberflächliche Zusammenfassung in der Folge ebenfalls. Das BBSR-Angebot ›INKAR online‹ setzt auf ein Nutzer*innenerlebnis, das sogar weit hinter den Netscape Navigator von 1994 zurückfällt. Deshalb müssen wir dringend über Digitalisierung und Demokratisierung reden. Wer beispielsweise die Erreichbarkeit des Öffentlichen Nahverkehrs anhand der Bevölkerung innerhalb eines Haltestellen-Radius‘ berechnen möchte, benötigt dafür sowohl die Lagedaten der Haltestellen als auch adress- oder wenigstens baublockscharfe Bevölkerungsdaten. Die liegen aber laut Quellenhinweis (S. 70) selbst für den ›Deutschlandatlas‹ in privatem Eigentum. Genau hier hätten er ein Ausrufezeichen als Instrument der Demokratisierung des 21. Jahrhunderts setzen können: indem er neben dem reinen Bilderbuch auch die zugrunde liegenden Datenbestände zur Verfügung stellt und zusätzlich ein leicht verständliches Tutorial, wie Bürger, Kommunen, Behörden, Unternehmen und überhaupt alle Interessenten die Daten zum eigenen Erkenntnisgewinn anwenden können. Stichwort Open Data. Allein jede kommunale Dienststelle leckte sich die Finger nach einem solchen Tool. Von einer Software-Schnittstelle oder einer App sei noch gar nicht gesprochen.

Potjomkinsches Dorf

Es schmerzt, wenn in wichtigen Zukunftsfragen die politische Selbstdarstellung jede Tauglichkeits- und Nutzenerwägung überstrahlt. Es drängt der bittere Eindruck sich auf, dass die Herausgeber es sich möglichst einfach machen, dabei möglichst große Brillanz ausstrahlen und gleichzeitig so wenig wie möglich Transparenz zulassen wollten. Eine komplette Luftnummer, die jedenfalls nicht aus dem Dilemma der Herrschaftsdaten hinausführt. Das Bundesinnenministerium legt dem eigenen Bekunden nach »seine Karten offen auf den Tisch.« Allerdings nicht wirklich zu den regionalen Lebensbedingungen — die waren längst bekannt; sondern stattdessen vor allem zur eigenen konzeptionellen Ahnungslosigkeit und zum Unwillen, das Thema ernsthaft durchzuarbeiten. Demokratisierung und Digitalisierung können beide auf dieser Basis nicht dauerhaft funktionieren.