Campaigning-GAU

Repräsentanten der Gemeinschaft dulden großflächige Pfuscherei und machen es sich damit leicht — statt echte Veränderungen anzustreben.

  29.10.2019 | 4 Minuten  

Der Überbietungswettbewerb bei Mobilitätskampagnen treibt bisweilen katastrophale Blüten. Wenn die Macher der Kampagne ›Kopf an, Motor aus!‹ beispielsweise behaupten, den moralischen Zeigefinger wegzulassen (Seite 10), dann strafen nicht nur der Kampagnentitel, sondern auch ihr Gebrauch des ›inneren Schweinehunds‹ als Schlagwort (ebd.)  und zusätzlich ihre arg missbräuchliche Anwendung des Transtheoretischen Modells sie Lügen. Denn mit ersterem werfen sie ihren Adressaten schlicht Dummheit vor, mit zweiterem Disziplinlosigkeit und mit letzterem Autosucht. All dies trifft aber nicht zu. Nicht erst neuere psychologische und neurobiologische Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Mensch einen Großteil seines Alltags, auch seine Fortbewegung, bewältigt, ohne nachzudenken. Denn das würde zu lange dauern und zu viel Energie beanspruchen. »Nicht etwa wohlüberlegte Vernunft führt bei vielen Entscheidungen die Regie, sondern eine wundersame Kraft aus dem Unbewussten gibt uns häufig den letzten Kick, etwas zu tun oder es zu lassen.«

Der eigenen Erkenntnis zuwider

Besonders bedauerlich: Die Kopf-an-Kampagne warb selbst mit diesem Faktum (Seite 12), zog daraus aber weder Schlussfolgerungen noch Konsequenzen für den eigenen Ansatz. Stattdessen stülpte sie ihrem Vorgehen eine Theorie über, die eigentlich aus der Forschung und Entwicklung zu Suchttherapien stammt. Weder konnte sie den damit zwingend zusammenhängenden Anspruch der dauerhaften therapeutischen Betreuung ihrer Zielgruppen einlösen noch das zugrunde liegende Wissen angemessen ausschöpfen — denn sie verkürzte die empirisch gebildeten sechs Stufen der Verhaltensveränderung, zum Zwecke der höheren Praktikabilität für den Kampagneneinsatz, kurzerhand auf die Hälfte (Seite 8). Erfolg: unbekannt. Aus dem Duktus dieses Kampagnen-Versuchs spricht in der Summe also weniger das Streben nach realen Effekten als vielmehr das neurotische Bedürfnis der Absender, sich besserwisserisch zu produzieren. Das Problem: Nicht wenige Verwaltungen geben für diesen Humbug jede Menge Geld aus, das, anders eingesetzt, echte Verhaltensänderungen bewirken könnte und nicht nur schöngerechnete.

Die Causa bietet damit aber letzten Endes sogar ein hervorragendes Anschauungsbeispiel für das Dilemma, das dem Ausbleiben von Verkehrs- und Klimawende zugrunde liegt: Es mangelt nicht an Erkenntnis, sondern an Urteilsvermögen. Keine Technologie dieser Welt kann das allerdings wettmachen.