Ein Quantum Überzeugtheit

Weil nur wenige Menschen gar nicht mobil sind, hilft bei der Veränderung des Mobilitätsverhaltens die Marken-Logik kaum weiter. Viel mehr zählt der soziale Kontext.

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Vor rund drei Jahren machte die — scheinbar frohe — Botschaft die Runde, dass immerhin 29 Prozent der befragten Online-Nutzer*innen den Empfehlungen von Influencern folgten. Relevanter seien nur Produktrezensionen und — jetzt kommt’s: — Empfehlungen von Freunden; letztere erreichten mit 63 Prozent sogar mehr als den doppelten Einfluss gegenüber den Influencern. Auch wenn die Zahlen sich in der Zwischenzeit weiter zugunsten der Online-Marktschreier*innen verschoben haben mögen: Reale soziale Zusammenhänge beeinflussen noch immer zu einem nicht zu unterschätzenden Teil die mehr als 100.000 täglichen Entscheidungen der Menschen, von denen 99 Prozent ganz unbewusst fallen.

Der Mensch, ein Imitator

Abgesehen von einem kleinen gallischen Dorf hat die Zunft der professionellen Mobilitäts-Jongleur*innen diesen Umstand leider vergessen oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Damit geht aber ein großes Potenzial für die Veränderung von Mobilitätsroutinen verloren. Statt sich über unfruchtbare Hypothesen wie den Einfluss von persönlichen Einstellungen oder von Mobilitätstypen darauf den Kopf zu zerbrechen, könnten Expert*innen die Mobilitätswende zwar deutlich weniger spektakulär, dafür aber mit einer weitaus größeren Breitenwirkung erreichen, indem sie die sozialen Beziehungen als Kanäle nutzen. Denn: »Soziale Bedürfnisse motivieren uns zum Lernen.«, so die Neurowissenschaftlerin Franca Parianen. »Wir sind darauf angewiesen von anderen zu lernen.« Und: »Wir achten sehr viel auf die Bestätigung von anderen Menschen und darauf, ob das, was wir lernen, sozial akzeptiert ist.« Verschiedene Disziplinen bieten für solche Wirkungsmechanismen längst gut operationalisierbare Modelle und Theorien an, etwa die vom Lernen am Modell oder von der sozialen Bewährtheit. Wer tiefer in die faszinierende Welt der Wirkungsweisen sozialer Zusammenhänge eintaucht, kann beinahe den Eindruck gewinnen, Mitmenschen bildeten für die einzelne Person einen weiteren, wenn auch außen liegenden Teil des eigenen Gehirns, quasi einen Soziocortex. Die Interaktion mit ihnen steigert die eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten zur Datenverarbeitung. Der Neuropsychologe Professor Lutz Jäncke sagt: »Wir beziehen unsere Urteile immer auf die Gruppe, mag sie auch noch so klein sein.« In der Mobilitätsforschung und -planung findet sich nichts davon.

Zwischen dem alltäglichen Verkehrsgeschehen einerseits und der Welt der theoretischen Erkenntnis andererseits liegen keineswegs unüberbrückbaren Schluchten; für eine erfolgreiche Mobilitätswende muss beides im Gegenteil sogar zwingend zusammenfinden. Als Format kann hier ein handliches Mobilitäts-Plugin zu Hilfe eilen: Es greift nicht grundlegend in die diversen Rahmensetzungen für Mobilität ein, etwa die baulichen, rechtlichen, betrieblichen etc., krempelt also nicht das System per se um — diese Aufgabe wäre noch in Dekaden nicht vollständig erledigt. Stattdessen schaltet es eine zusätzliche Funktion für das bereits bestehenden Umfeld frei: in diesem Falle für das soziale Umfeld, beispielsweise Schulklassen, Belegschaften von Unternehmen, Verwaltungsabteilungen, Familien etc. Stünden dort nur genügend gut geschulte Menschen zur Verfügung, die ihre Mitmenschen auf ihr Verkehrsverhalten aufmerksam machten und gemeinsam mit ihnen angemessene Alternativen erarbeiten, also ihre Mobilitätskompetenz stärkten, wirkte das im Gegensatz zur platten Info-Kampagne oder dem apersonalen Top-Down-Mobilitätsmanagement viel unmittelbarer und eben persönlicher und fände sich gleichzeitig eingebettet in die tatsächlichen Lebenswelten der Klient*innen. Das verspräche insgesamt deutlich größere Effekte als jeder Belehrungsversuch — und vollzieht sich anhand einzelner Auslöser ohnehin schon, etwa wenn Schüler*innen ihre Elternschaft öffentlichkeitswirksam auf deren fehlende mentale Flexibilität hinweisen.

Jene, die dafür brennen

Verkehr ist, wenn Menschen sich bewegen. Mitten im Geschehen herrscht zwar bisweilen viel Anonymität, doch dazu verdammt ist keine*r der Teilnehmenden. Deshalb führt es auch in die Irre, wenn hiesige Mobilitätsdompteur*innen sich in den letzten Jahren verstärkt auf die Entwicklung von Markenzeichen verlegen, um Verhaltensveränderungen anzuregen — für den Radverkehr, für den Fußverkehr, für den ÖPNV, für den Umweltverbund oder worfürauchimmer. »Go, tell it on the mountain!«, heißt ein alter Gospel-Song. Erwünschtes Verhalten, und darin liegt das aktuelle Dilemma der Verkehrswende, verbreitet sich nicht mittels Aufklärung, sondern mittels Überzeugung: von einem Menschen zum anderen.