Die meisten Radverkehrs-Papiere werden der Wirklichkeit nicht gerecht. Mit der Radfahr-Episode gelingt eine ehrliche und äußerst erkenntnisreiche Inventur.
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Stellen wir uns einmal die folgende Situation vor: Eine Regisseurin möchte ein Filmprojekt realisieren. Doch das Drehbuch hält lediglich technische Angaben über das Set, die Materialien und die Verpflegung der Darsteller:innen bereit, vielleicht auch noch Erörterungen über Vertragsverhältnisse und Versicherungsfragen. Von den Figuren, ihren Motivationen und ihren Handlungen fehlt allerdings jede Spur. Würde dieser Film jemals zustande kommen?
Nicht Menge, sondern Personen
Leider ergeht es der öffentlichen Radverkehrsförderung hierzulande ganz ähnlich. Bis auf den Zentimeter genau können Planungswillige diverse Regularien nachlesen, auch an Statistiken, Leitfäden und Befragungsergebnissen fehlt es nicht. Aber die Radfahrenden als Personen gehen dennoch immer wieder durch die Lappen. Was geht aber beispielsweise einem elfjährigen Mädchen auf seinem Schulweg durch den Kopf, dem mehr als nur ein Mal durch rücksichtslose Kraftfahrzeug-Führer:innen die Vorfahrt abhanden kommt? Verbietet der Familienvater seinen Kindern das Radfahren gerne, oder lediglich notgedrungen, weil er alle Strecken im Ort kennt und sie alle für viel zu gefährlich hält? Was erwartet das Senior:innen-Paar von der gemeinsamen Fahrradfahrt und wie sprechen beide anschließend darüber?
Vielfältige Gespräche zeigen immer wieder, dass den Radfahrenden das eigene Erwarten, Erleben und Erinnern oftmals gar nicht richtig bewusst ist. In ihrem Denken und Sprechen geistern abstrakte Konzepte von Infrastruktur, Verkehrssicherheit oder Klimawirkungen herum, die allerdings nur sehr selten einen konkreten Bezug zum eigenen Radfahr-Erlebnis mit seinen Handlungen, Gedanken und Gefühlen aufweisen. Wer aber seine realen Bedürfnisse nicht artikulieren darf, soll valide Antworten darüber geben, unter welchen Umständen er häufiger radfahren würde?
Schritt für Schritt durch das Erlebnis
Denn genauso wie die bekannten politischen Sonntagsreden bleiben solche Befragungen regelmäßig wirkungslos im irrealen Raum hängen. Logisch, dass rund 70 Prozent aller Befragten häufiger in die Pedale träten, wenn die Bedingungen sich verbesserten. Aber schon deren konkrete Definition bleiben die Erhebungen regelmäßig schuldig — erst Recht aus dem Blickwinkel der Betroffenen. spitzenkraft.berlin hat deshalb die ›Radfahr-Episode‹ entwickelt: eine Methode aus dem User Experience Design, mit deren Hilfe Gruppen von Radfahrenden entlang eines typischen Ablaufs zu allen einzelnen Etappen ihre Handlungen, Gedanken und Gefühle reflektieren und sichtbar machen können. Das Experience Mapping anhand der Radfahr-Episode funktioniert mit allen Wegezwecken genauso wie mit allen Alters- oder Interessengruppen und fördert oftmals erstaunliche Aspekte des Radfahrens zutage, die ansonsten stets durch das sehr grobe Raster der technokratischen Netz- und Anlagenplanung fallen.
Denn letzten Endes muss es bei der Förderung des Radfahrens darum gehen, das Radfahr-Erlebnis für so viele Menschen wie möglich zu verbessern. Das erfordert freilich Mut, denn es könnte sich beispielsweise herausstellen, das verschiedene politische Entscheidungen, planerische Kniffe oder aktivistische Moden eher zu Unzufriedenheit führen und viele Menschen aus dem Sattel scheuchen, statt das Gegenteil zu bewirken. Umgekehrt formuliert: Die Radfahr-Episode kann die Entscheidungen der Verantwortlichen optimieren und damit letztlich sogar zu einem effizienteren Mitteleinsatz führen. Vor allem aber erlaubt sie es den Teilnehmer:innen, sich selbst endlich als vollwertige Radfahr-Person zu begreifen.