Nicht die Distributions-Technologie entscheidet über den Erfolg des ÖPNV, sondern seine Immersivität.
05.01.2021 | 10 Minuten
Die Gestaltung öffentlicher Verkehrsangebote — mithin im üblichen Sprachgebrauch also des ÖPNV oder von ›Bus und Bahn‹ — orientiert sich noch immer viel zu stark an technologischen Aspekten. So erhalten in den Köpfen von Entscheidungsträger*innen aktuell die On-Demand-Angebote ein starkes Übergewicht, weil sie nach sexy Innovation schmecken. Tatsächlich bringen sie dem ÖPNV aber nicht nur keinen Qualitätsgewinn, sondern sie bauen sogar zusätzliche Schwächen ein: Erstens gelten die Kosten pro Beförderungsfall heute noch immer als deutlich höher gegenüber dem Linienverkehr. Zweitens finden Bedarfsverkehre bei den Kund*innen nicht den gleichen Anklang wie Linienverkehre. Das lässt sich nicht nur psychologisch erklären — Mobilitätsverhalten unterliegt nur sehr selten der rationalen Entscheidung, sondern im Gegenteil zu mehr als 90 Prozent der Gewohnheit —, sondern vor allem empirisch belegen: Während die Uckermärkische Verkehrsgesellschaft, als Vertreterin eines dünn besiedelten ländlichen Verkehrsgebietes, laut VDV-Statistik rund 0,12 Fahrten pro Potenzialkund*in und Tag erreicht, laufen der Wittlich Shuttle von ioki und sogar großstädtische Bedarfsangebote wie der Berlkönig oder ioki Hamburg mit 0,002 bis 0,003 Fahrten um das Fünfzigfache hinterher — was die Effizienz noch zusätzlich massiv schwächt. Getrieben wird die Entwicklung dagegen von den Software-Anbietern, die, um den Vertrieb ihrer System anzukurbeln, gerne ihr teuerstes Produkt mit vernachlässigten ländlichen ÖPNV-Systemen vergleichen.
Komfortabler und effizienter ÖPNV lässt sich aber auch im Linienverkehr erreichen, sogar auf dem Land. Das beweist aktuell der Kreis Rendsburg-Eckernförde in Schleswig-Holstein. Er mobilisiert zusätzliche Ressourcen und stockt die Fahrplankilometer auf fast das Doppelte des bisherigen Budgets auf. Doch nicht allein dieses Volumen, sondern das dahinter liegende System der Vernetzung aller einzelnen Angebote, der integrale Taktfahrplan, werden zu einer »Revolution im Nahverkehr« führen und die Fahrgastzahlen drastisch steigern; so wie schon zuvor im ländlichen Teil des Landkreises Leipzig. An beiden Planungen war Diplom-Geograph Johannes P. Reimann beteiligt.
Da erscheint es nur recht und billig, dass das Bundesverkehrsministerium jetzt zusätzliches Geld in die Hand nimmt und mit einer neuen Förderrichtlinie den ÖPNV attraktiver machen will. Angesichts der massiven Verfügbarkeit des Konkurrenten Nummer eins, des Automobils — die individuelle Auswertung von Mobilitätsdaten anhand des Tools ›Mobilität in Tabellen 2017‹ ergibt, dass die ÖPNV-Nutzung (in der Region) mit steigender Autoverfügbarkeit abnimmt. In Haushalten mit keinem Automobil nutzen nur ca. 13 Prozent der Menschen den ÖPNV niemals, in Haushalten mit einem oder mehr Autos im Durchschnitt dagegen schon 52 Prozent — kann der Hauptansatz nur lauten, den ÖPNV in seiner Menge und Präsenz deutlich auszubauen. Das betrifft Fahrten, Takte, Linien, Fahrzeuge und ganz besonders die Dichte von Haltestellen.
Bitte nicht planlos durch die Nacht!
Doch auch der Zuwachs an Ressourcen sollte einen klugen Einsatz finden. Es gilt, statt der Gießkanne einen Ansatz zu finden, der maximale Wirkung je eingesetzter Aufwandseinheit verspricht. Die Förderrichtlinie versucht dorthin zu steuern, indem sie die Einbettung der letztlich geförderten Maßnahmen in ein stimmiges Gesamtkonzept fordert. Die Autor*innen in spe von Förderanträgen müssen sich selbst also die Frage stellen: Womit erzielen wir mit größer Wahrscheinlichkeit den höchsten Fahrgastzuwachs? Die Antwort weist mindestens zwei Gedanken auf. Erstens muss ein verbessertes ÖPNV-Angebot nicht nur mit höheren Leistungsdaten überzeugen, sondern auch mit einem — durch Synergien am besten überproportional — höheren Nutzen für die Kund*innen. Die fünf Dimensionen der Iconic Mobility — der Life Hack, die Motion Experience, die Social Practice, das Ego Invest und das Self Telling — gelten auch hier. Daneben fällt stark ins Gewicht, wie die Kund*innen ihr Urteil über die Nützlichkeit des — verbesserten — ÖPNV bilden, wie also Nachfrage entsteht. Hier hilft das Modell von der Mobilitätskognition weiter: erwarten, erleben, erinnern.
Als Maß für die Qualität des ÖPNV — und grundsätzlich auch aller Teilverkehrssysteme, insbesondere im Vergleich zueinander — taugt möglicherweise ein Begriff aus der virtuellen Realität: die Immersion, also das Hineingezogensein. Die lässt sich beschreiben als»a psychological state characterized by perceiving oneself to be enveloped by, included in, and interacting with an environment that provides a continuous stream of stimuli and experiences«. Tatsächliche Nützlichkeit einerseits und das abstrakte Image andererseits konvergieren in der Immersivität: in der Fähigkeit des Verkehrsmittels, Kund*innen für sich einzunehmen. Weil es sich hier aber nicht um Produkte handelt, die bis zum Versand oder dem Einkauf in einem Ladengeschäft in den Regalen der Anbieter verharren, spielt die räumliche Ausprägung von Immersivität in Mobilitätsfragen eine wesentliche Rolle.
Erfolgsrezept: mehr davon
Haltestellen etwa bieten mit der Dichte ihres Netzes und mit ihrer Gestaltung hervorragende Kristallisationspunkte von Immersion in den ÖPNV. Je mehr davon vorhanden sind, desto durchlässiger wirkt die Membran zwischen der Alltagswelt der Menschen und der ÖPNV-Welt. Deshalb dürften virtuelle Haltestellen sich langfristig als Gift erweisen, und zwar auf doppelte Weise: Erstens senden sie keine Signale von ihrer Existenz bzw. von der Existenz des ÖPNV mehr in den realen Raum hinein. Die öffentliche Landschaft verschweigt immer mehr den ÖPNV und betont immer stärker den MIV. Zweitens nötigt es den Kund*innen mehr Energie ab, sich über die Lage virtueller Haltestellen zu informieren; zusätzliche Handgriffe oder Fingergesten werden notwendig. Das schmälert die Leichtigkeit und erhöht letztlich den Dropout.
Um die Fördermittel klug einzusetzen, braucht es also einen guten Überblick über die Eigenschaften und Fähigkeiten des ÖPNV und eine realistische, vor allem aber eine ehrliche Wirkungsabschätzung. On-Demand-Angebote werden Bus und Bahn nicht retten, jedenfalls nicht im Alleingang. Sie können an kritischen Stellen die Immersivität des Gesamtsystems erhöhen bzw. bewahren. Ansonsten muss gelten: So viel ÖPNV wie möglich! Im Gegensatz zu den jährlich rund 1,6 Milliarden Euro, die die Automobilindustrie allein für Werbung ausgibt, und den ebenfalls jährlich anfallenden gemeinschaftlichen Kosten von rund 128 Milliarden Euro durch den MIV bedeuten auch die nun in Aussicht gestellten 249 Millionen Euro über vier Jahre nicht mehr als den berühmten Tropfen auf dem heißen Stein.