Nicht die ökonomische Magnetwirkung wird über Wohl und Wehe der Innenstädte entscheiden, sondern die soziale.
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Ein wahrnehmbarer Diskurs um die Zukunft der Innenstädte finde noch nicht statt, moniert die Stadtsoziologin Professor Martina Löw. Dabei bieten medial transportiere Schlagworte wie Kaufhaus-Sterben, Superblocks und Flaniermeile allen Grund dazu. Doch das kollektive Schweigen könnte sich weniger aus Desinteresse oder Verweigerung speisen als vielmehr aus einer abgrundtiefen Ratlosigkeit auf allen Seiten: Wenn die Menschen immer mehr online einkaufen, was fangen wir dann mit diesem Ding namens Innenstadt an?
Beinahe kaputt
Diese Nuss muss aller Voraussicht nach ein Großteil der 2.058 Städte in Deutschland knacken. Deren Einwohner*innen summieren sich auf knapp 61 Millionen, und damit immerhin auf 73 Prozent der gesamten deutschen Bevölkerung. Leider bieten gerade auch die Denker*innen, die eine laute Debatte fordern, bislang keine ernstzunehmende Lösung an. Bürgermeister*innen sollten »den Charakter ihrer Städte stärken. Sollten Ladenlokale ansiedeln, vielleicht auch subventionieren, für deren Erhalt die Menschen in der Stadt kämpfen würden. Sollten ein Angebot schaffen, dass sich seine Nachfrage schafft. Sollten sich vielleicht sogar spezialisieren, eine verlässliche Anlaufstelle für bestimmte Produkte sein.« Bei den ökonomischen Magneten handelt es sich aber ganz offensichtlich um genau dasjenige knappe Gut, dass Dank der zunehmenden Digitalisierung des Handels erstens künftig noch stärker aus der realen Räumlichkeit verschwinden und zweitens einen erbitterten Konkurrenzkampf unter den Städten um ihre Segnungen entbrennen lassen wird. Standortwettbewerb 4.0. Nur die wenigsten Fußgängerzonen werden mit dem Flagship Store einer bekannten Marke punkten können oder die notwendige Flexibilität und Ausdauer besitzen, regelmäßig neue, zugkräftige Pop-up-Stores zu akquirieren.
Doch wer behauptet eigentlich, Innenstädte müssten auch das ökonomische Zentrum einer Siedlungsverdichtung bilden? Hinter solchem Paradigma steckt vermutlich eine viel tiefer liegende Krise: nämlich die des Draußen. Könnte es sein, dass wir es über die Kultivierung von Reservaten für Zufußgehende, hierzulande als ›Fußgängerzonen‹ bezeichnet, verpasst haben, ein tragfähiges Modell von Straße als im besten Sinne öffentlicher Raum zu entwickeln? Dass wir noch immer in Fragmenten denken, statt den Abstand zwischen gegenüberliegenden Hauswänden als gemeinsames Biotop für Menschen, und nicht für Maschinen zu deuten? Dass wir eine invalide Außenwelt geschaffen haben, die uns sogar daran hindert, unsere eigenen Fähigkeiten zur vollen Reife zu führen?
Vitalität statt Nutzung
Ich möchte eine völlig andere Herangehensweise vorschlagen: Wenn ein lesenswerter Essay über den öffentlichen Raum denselben als Gelegenheit zur »Begegnung mit dem Fremden« definiert, möchte ich das erweitern zur ›Begegnung mit dem Anderen‹. Damit meine ich den anderen Menschen, der nicht im eigenen Haushalt lebt. Die Nachfrage nach solchen Begegnungen dürfte sich in den vergangenen Jahrzehnten theoretisch vergrößert haben, im Gleichschritt mit der Verrringerung der Personenzahl pro privatem Haushalt. Hierin liegt das wahre Potenzial des öffentlichen Raums und insbesondere der Innenstädte. Das wussten schon die Stadtplaner vergangener Jahrhunderte. »Historische Städte haben immer in Entfernungen von zweihundert bis zweihundertfünfzig Metern Plätze.«, so der Wiener Verkehrplaner Professor Knoflacher. Dieses Prinzip eilte sogar den Erkenntnissen der Hirnforschung voraus. »Thinking is movement, confined to the brain«,sagt etwa die britische Wissenschaftlerin Professor Susan Greenfield. Offene Straße, offener Geist. Sitzbänke und Grünanlagen bringen noch mehr Annehmlichkeiten, die öffentliche Straßenbeleuchtung weitet die Möglichkeit zum Aufenthalt auch in die dunklen Stunden aus.
Nun bieten innerstädtische Plätze, auch wenn sie sich formidabler Gestaltung erfreuen, noch keinen Wert an sich, für den allein es sich lohnen würde, die Innenstadt aufzusuchen. Die Rechnung geht erst auf, wenn sie die Variable Menschen enthält. Denn gleich, wie der theoretische Ansatz sich nennt, um das in Maß und Zahl zu berechnen, lehrt doch schon alle Erfahrung: Wo Leben ist, da zieht es weitere Menschen an. Die Innenstadt wieder neu mit Leben aufzuladen, und zwar abseits des einfallslosen Primats der Ökonomie, das ist die Idee des Modells City Reloaded. Es leiht sich eine gut handhabbare Differenzierung vom US-amerikanischen Soziologen Professor Ray Oldenburg in erste Orte (Wohnstätten), zweite Orte (Arbeitsstätten) und dritte Orte, als »hangouts at the heart of a community«. Es ergänzt vierte Orte als Orte der Versorgung bzw. des Konsums und postuliert, dass es in Innenstädten eben nicht auf eine größtmögliche Konzentration von Einzelhandel ankommt, sondern auf die synergetische Integration der Funktionen Wohnen, Arbeiten bzw. Produzieren, Erholen, Konsumieren und sich Bilden und deren räumlich-bauliche Inszenierung mit dem Ziel, möglichst viel Leben zu entfalten. Neben repräsentativem Wohnen gehören dorthin also auch Büros, Behörden, Ateliers und Handwerksbetriebe, Gastronomie und Ladengeschäfte, Schulen und Akademien sowie Freizeit- bzw. Unterhaltungseinrichtungen; aber eben auch die erwähnten Plätze und Freiflächen.
Herzen statt Produkte
Doch sie alle eint ein gemeinsamer Geist von Transparenz, Öffentlichkeit und Begehbarkeit. An die Stelle des Nebeneinander von atomisierten Flächen, die jeweils für sich um neue Nutzungen und damit ums Überleben ringen, tritt ein Miteinander der Gelegenheiten, das die Straße an vielen Stellen in die Höfe und in die oberen Etagen und das Innenleben der Gebäude auf die Straße trägt. Durchlässigkeit als Erfolgsfaktor, der sich besonders gut in Lagen erreichen lässt, die sich nicht nur mit einem letzten krankenden Ladengeschäft eher halbherzig gegen die totale Wüstung stemmen — weil der Gemeinschaft nichts weiter einfiel. Genau die macht aber die City Reloaded letztlich aus. Deren Erfolg entscheidet sich nämlich nicht am Katalog von Nutzungen, sondern an der sozialen Praxis der Menschen, die die Innenstadt erleben. Deshalb dürfen feste Rituale genauso wie wechselnde bzw. überraschende Attraktionen ebenfalls nicht fehlen, wie etwa Woche- und Flohmärkte und Pop-up-Stores. Als kritischste Voraussetzung dürfte sich aber die Fähigkeit einer Innenstadt erweisen, sich stetig dynamisch zu verändern, um das eigene Attraktionspotenzial zu bewahren — gleich der Fruchtfolge in der Agrarwirtschaft. Jahrzehntelang gültige Mietverträge dürften der Vergangenheit angehören. Dafür bedarf es allerdings des agilen Managements. Die Wirtschaftsförderung der Zukunft betreibt keine Ansiedelungs-, sondern eine Gästepolitik und bemisst ihren Erfolg nicht mehr in Flächenumsatz, sondern in begeisterten Menschen, die gerne wiederkommen — egal woher.